Nicht ohne dich
Gefängnis gewesen war. Zwar nur zwei Tage, aber Frau Schmid zwei Etagen über uns bedachte uns seitdem immer mit abfälligen Blicken, wenn sie uns sah. Wenigstens wussten wir jetzt, wer unsere wahren Freunde waren: die Tillmanns, die Jankes und der alte Herr Berger von ganz oben. Die Kohls, die Kribsens und Herr Schmid grüßten uns hastig, wenn sie genug Mut dazu aufbrachten.
Frau Besenstiel nestelte an dem bronzenen Kreuz herum, das sie an einem Band um den Hals trug. Die Nazis hatten es ihr verliehen, weil sie vier arische Kinder zur Welt gebracht hatte. »Die reinste Zuchtstute ist das«, sagte Mama immer.
»Ist Ihre Tochter schon im Jungmädelbund?«, wollte sie wissen.
»Noch nicht, aber bald«, entgegnete Mama. Das war gelogen. Mädchen konnten sich eher vor dem Jungmädelbund drücken als Jungs vor der Hitlerjugend, und ich würde es so lange hinauszögern wie möglich. Wenn es nach mir ging, würde ich nie eintreten. Meine beste Freundin Paula war auch nicht dabei.
Frau Besenstiel schnalzte missbilligend mit der Zunge. Das mussten wir schweigend hinnehmen, solchen Leuten duften wir nicht die Meinung sagen, weil sie uns bei der Gestapo denunzieren könnten. Aber sie war noch nicht fertig. »Norbert sieht diesen jungen Mann hier nicht allzu häufig bei der Hitlerjugend«, sagte sie mit Blick auf Karl.
»Ich habe momentan so viele Hausaufgaben zu erledigen«, entgegnete Karl.
»Hausaufgaben!« Frau Besenstiel spuckte das Wort fast aus. »Und du hältst deine Hausaufgaben für wichtiger als den Einsatz für das deutsche Volk? Ihr habt ja alle keine Ahnung. Ich kann Ihnen eins sagen, wir wurden von den Juden unterjocht. All die Jahre haben wir hart gearbeitet, gespart und gespart …«
»Ich habe mir das Rauchen verkniffen«, mischte sich nun Herr Mingers ein und sah Papa vorwurfsvoll an. »Nicht einmal ein Glas Bier habe ich mir gegönnt, habe immer Geld zur Seite gelegt – und dann haben die Juden in New York die Mark ruiniert und unsere Ersparnisse waren futsch. Unser Junge musste mit fünfzehn von der Schule abgehen und im Geschäft mithelfen, er hatte nicht die Möglichkeit, die Oberschule zu besuchen. Und die Judenbengel kriegen eine gute Ausbildung. Auch jetzt noch.«
Raffi war von seiner staatlichen Schule geflogen und besuchte nun eine jüdische Schule. Mama hatte Tante Ediths Schmuck unter anderem verkauft, um seine Schulgebühren zu begleichen.
Unsere Wohnungstür öffnete sich und Katrin kam mit Muffi heraus. »Das Essen ist fertig«, sagte sie.
Frau Besenstiel sah Muffi angeekelt an. »Dieser ausländische Köter mit seinen bakterienverseuchten Zotteln …«
Wir flüchteten in die Wohnung.
»Ich habe sie gehört«, sagte Katrin, sobald wir die Tür fest hinter uns geschlossen hatten, »und dachte mir, ich muss Sie erlösen.«
Sie hatte die Teekannenhaube über das Telefon gelegt. Plötzlich überkam mich das Gefühl, die Haube läge über meinem Mund und würde mich ersticken. Wenn wir Engländer wären, könnten wir überall alles sagen, was wir dachten, das hatte Omi mir erzählt.
Papa meinte traurig: »Sie sind wie allzu viele Menschen in Deutschland, sie haben harte Zeiten erlebt, und jetzt machen sie die Juden für alles verantwortlich. Sie sind fehlgeleitet.« Er beugte sich hinunter zu Muffi und verwuschelte ihr Fell. Dabei fiel ihm die Pfeife aus der Tasche. Ich stellte mir vor, wie er sie sich in der Werkstatt ansteckte und ihm Herr Mingers durchs Fenster finstere Blicke zuwarf.
»Du bist zu großmütig«, sagte Mama. »Die sind doch pures Gift.«
Muffi hob Papas Pfeife mit dem Maul auf und hielt sie ihm hin – heruntergefallene Gegenstände aufzuheben war ein Kunststück, das ich ihr beigebracht hatte. Es war sehr nützlich gewesen, als sich Papa nach seiner Verhaftung nur noch unter Schmerzen bücken konnte – die Gestapo hatte ihm mit ihren Fußtritten drei Rippen gebrochen. Er nahm Muffi die Pfeife ab und wischte sie an seiner Hose ab. »Danke, Muffi«, sagte er.
Karl sagte: »Hört euch mal den an: Eines Abends geht Herr Mingers zu einer Parteiversammlung und hinterlässt auf dem Tisch eine Nachricht, wo er ist. Dann geht Frau Besenstiel aus und lässt ebenfalls einen Zettel da, auf dem steht: ›Heil Hitler! Ich bin beim Frauenschaftsabend.‹ Und dann geht Norbert aus und seine Nachricht lautet: ›Heil Hitler ! Ich bin bei der Hitlerjugend‹, und Willi …«
»Schon gut«, unterbrach ich ihn, »sie gehen also alle zu ihren diversen Nazigruppen. Was ist
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