Nicht ohne dich
»Du bist lieb, Jenny«, sagte sie, aber es klang traurig. Ich war nur ein Kind, noch dazu die Jüngste. Ich konnte sie nicht trösten.
Wir gingen zurück ins Wohnzimmer.
Der schäbige, zerfurchte Tisch war mit Frau Tillmanns Service gedeckt. Es war weiß mit einem dünnen Silberrand. Der Kuchen lag auf einer mit rosafarbenen Rosen gemusterten Platte und in der Kanne dampfte der Kaffee. Mama hatte Apfelsaft mitgebracht. Der Rabbi war bereits aufgestanden, unterhielt sich aber immer noch mit Papa.
»Die Hoffnung«, sagte er. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Herr Friedemann.«
»Das sehe ich auch so«, entgegnete Papa sehr ernst und legte noch einen seiner Quäkersprüche nach. »Ein Ozean von Dunkelheit liegt vor uns, aber wir dürfen nicht vergessen, dass jenseits davon ein Ozean von Licht und Liebe fließt.«
Da flammte der Zorn in mir auf wie eine Fackel und ich sagte zu dem Rabbi: »Wie konnten Sie in Ihrem Gebet an Onkel Markus’ Grab bloß sagen, es sei Gottes Wille gewesen, dass die Nazis ihn getötet haben?«
»Jenny!«, ermahnte mich Mama, aber der Rabbi wandte sich mir zu. Ich sah die Fältchen, die die Müdigkeit um seine dunklen Augen gezeichnet hatte, und den traurigen Zug um seinen Mund. Einen Augenblick stellte ich mir vor, wie er ganz allein auf einer heißen, staubigen Straße wandelte. Er war nicht verärgert. Er sprach mit mir wie mit einer Erwachsenen.
»Jenny, ich weiß, wir leben in schrecklichen Zeiten. Ich gehe von Haus zu Haus und sehe das Leid dort, sehe, dass meinem Volk schreckliche Dinge geschehen – und allen anderen, die den Nazis Widerstand leisten.« Fast wie zu sich selbst sagte er: »Zum Schimpf sind wir geworden in den Augen der Nachbarn, zu Spott und Hohn bei allen, die rings um uns wohnen.« Ich glaube, das war etwas aus der Bibel. Er seufzte, dann fügte er noch hinzu: »Mir bleibt nur, mir in Erinnerung zu rufen, was mein Volk Israel einst durchlitten hat und wie unser Vertrauen in Gott uns durch die dunkelsten Tage geführt hat.«
»Das war unhöflich von dir, Jenny«, rügte mich Mama.
»Nein«, widersprach der Rabbi, »Jenny hat das ganz zu Recht gefragt.«
Jetzt mochte ich ihn, weil er mich ernst genommen hatte, trotzdem dachte ich: Wenn einem nichts anderes bleibt als die Hoffnung, was hat dann alles noch für einen Sinn?
Mit einem traurigen Lächeln verabschiedete er sich. Wir setzten uns und aßen den Kuchen, den ich gebacken hatte. Genießen konnte ich ihn nicht.
Da stellte Tante Edith plötzlich ihre Kaffeetasse ab und platzte heraus: »Raffi, warum willst du nicht bei einem der Kindertransporte mitfahren? Oder zu deinem Onkel nach New York oder nach Südafrika gehen?«
»Auf keinen Fall, Mama«, weigerte sich Raffi und setzte sich kerzengerade hin. »Ich hau doch nicht ganz allein nach England ab. Oder sonst wohin.«
»Papa wollte, dass du gehst«, sagte Tante Edith wütend. »Wegen deiner Starrköpfigkeit ging es ihm noch schlechter, weil er sich Sorgen gemacht hat …«
Raffi erbleichte. Ich konnte nicht fassen, was ich gerade gehört hatte. Alles schien in Stücke zu brechen.
»Willst du damit etwa sagen, dass ich Papa umgebracht habe?«, wollte Raffi wissen.
Schnell antwortete mein Papa: »Das Konzentrationslager hat deinen Vater umgebracht.«
»Nein, das habe ich nicht gemeint, Raffi«, beschwichtigte ihn Tante Edith. »Natürlich nicht. Es ist nur …« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Raffi, ich drehe noch durch. Wenn ich dich doch bloß in Sicherheit wüsste …«
Raffi stand auf und nahm sie in die Arme. »Hör zu«, sagte er und drückte sie fest. »Es wird alles gut, bestimmt. Wir werden beide ein Visum bekommen, und dann nehmen wir zusammen ein Schiff und sagen Deutschland ade. Wir fangen woanders ein neues Leben an, und das einzig Schlimme wird sein, dass wir unsere Freunde zurücklassen müssen. Schau mich an, Mama.«
Er grinste sie an. Da musste sie zurücklächeln.
»Raffi«, sagte sie gleichzeitig lachend und weinend. »Du bist meschugge .«
Das war Jiddisch, aber ich wusste, was es bedeutete. Verrückt.
»Dann bin ich eben meschugge «, sagte er. »Und du weißt, dass du es ohne mich nicht aushältst.«
Zehn Tage danach, ich kam gerade mit Muffi und Paula von einem Badeausflug zum Wannsee nach Hause, rief Mama mich ins Wohnzimmer. Sie war dabei, einen Rock für eine ihrer Schneiderkundinnen einzusäumen, aber als Muffi daran herumschnüffelte, legte sie ihn über die Sofalehne.
»Jenny, die Montgomerys
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