Nicht ohne dich
habe sie gesehen. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass du hier bist. Sie war froh darüber.«
»Wie konntet ihr überhaupt miteinander reden, während die SS dabeistand?« Er ergriff meine Hände und schob sie von seinen Schultern, wir rangen miteinander, bis ich gegen den Türrahmen schlug und mir die Schulter stieß. Vor Schreck schnappte ich nach Luft.
»O Gott«, sagte er. »Ich habe dir weh getan. Aber trotzdem, Jenny, du musst mich einfach gehen lassen.«
»Nein, Raffi, du musst mir zuhören.«
Daraufhin blieb er still stehen und ließ mich reden. Drei Mal hintereinander musste ich es ihm erzählen. Doch er sagte bloß: »Ich kann sie nicht allein gehen lassen.«
»Raffi«, entgegnete ich. »Sieh mal, du bist in Deutschland geblieben, um bei ihr zu sein, das weiß ich, aber …«
Ich brach ab, weil er mich ansah wie einen Feind.
»Sie braucht mich.«
»Wenn du ihr das Herz brechen willst, dann geh sie nur suchen.«
Und gleich darauf begann Muffi scharf zu bellen. Draußen fuhr ein Fahrzeug vor.
»Das sind sie«, sagte ich. »Jetzt muss ich dich einsperren, sonst sind wir alle verloren.«
Er trat von der Tür zurück. Ich sah sein bekümmertes, trauriges Gesicht noch vor mir, als ich die Tür schon geschlossen hatte.
Stiefel polterten die Treppe hinauf und dann hörte ich, wie sie an die Wohnungstür hämmerten und brüllten: »Aufmachen! Gestapo!« Während ich mit den Riegeln an der Rückwand des Theaters kämpfte, sagte ich mir, es sei ein Glück, dass die Gestapo gekommen war und nicht die SS-Leute, die Tante Edith abgeholt hatten. Die hätten mich nämlich erkannt.
Ich hörte, wie Mama die Tür öffnete. Ich hörte sie drinnen herumtrampeln und dachte an die Märchen, die ich den SS-Leuten aufgetischt hatte. Es wäre ein Klacks herauszufinden, wer Tante Ediths Vermieterin war. Sie hatte zwar wirklich eine Tochter in meinem Alter und auch einen Sohn, aber sie würde ihnen erklären, sie habe ihre Tochter an diesem Abend nicht losgeschickt, um die Miete zu kassieren. Mir war innerlich ganz kalt. Dann dachte ich an die verpasste Trambahn. Ich hatte das Gefühl, alles vermasselt zu haben.
Mir war klar, dass ich nach oben gehen musste, alles andere wäre verdächtig gewesen. Außerdem wollte ich Mama nicht mit der Gestapo allein lassen. Dann bekam ich Angst, Muffi könnte sie anbellen und sie würden sie erschießen.
Ich nahm ihren Kopf in die Hände und streifte die Zotteln vor ihren Augen zurück. »Muffi«, sagte ich, »es ist ganz furchtbar wichtig, dass du jetzt nicht bellst. Hast du gehört?« Sie bewegte den Kopf, um sich zu befreien, doch ich wiederholte: »Du musst nett zu diesen Leuten sein.«
So machten wir es immer, wenn Handwerker ins Haus kamen. Normalerweise funktionierte es. Ich hoffte verzweifelt, es würde auch diesmal helfen.
Irgendwas musste ich mitnehmen, aber ich wusste einen Augenblick lang nicht, was. Dann sah ich den Flickkorb und es fiel mir wieder ein.
Ich ging über die Küchentreppe nach oben. Als ich in den Flur kam, sah ich, wie der Uniformierte Mama mit vorgehaltener Waffe an die Wand drückte. Und Muffi bellte nicht, sondern spannte nur alle Muskeln an. Sie hätte gern gebellt, aber sie hatte verstanden, was ich gesagt hatte. Brav, Muffi, dachte ich.
Der Gestapobeamte brüllte: »Wo warst du? An die Wand mit dir!«
»Unten«, stammelte ich, »das hier für Mama holen.« Ich wich zurück Richtung Wand und der Flickkorb fiel mir aus der Hand. Muffi schnappte sich ein zusammengerolltes Paar Socken und apportierte sie Mama. Ihr Schwanz wedelte ziemlich nervös, so sehr bemühte sie sich, ein braver Hund zu sein.
»Ich kann das jetzt nicht nehmen, Muffi«, sagte Mama mit beklommener Stimme.
Der Gestapobeamte lachte. Er hatte ein grobknochiges, von Sommersprossen übersätes Gesicht und seine Augen waren von einem blassen Grau. Er roch nach Zigarrenrauch und Bohnenkaffee.
»Der Hund ist wirklich ein Witzbold«, sagte er.
Ein Mann kam aus meinem Zimmer und schlug die Hacken zusammen. »Melde gehorsamst, da ist niemand drin.«
Ich stand, das Gesicht zur Wand, stocksteif da und hörte das Quietschen einer Schranktür, die geöffnet wurde. Das ist Mamas und Papas Kleiderschrank, dachte ich. Kleiderbügel klapperten, Stoff raschelte, als der Mann die Kleider zu Boden warf. Ein quietschendes Geräusch, als er das Bett verschob. An meiner Stirn und meinen Handflächen spürte ich die Tapete. Ich fühlte mich hilflos und wehrlos und wünschte nur, jenseits dieser
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