Nicht ohne dich
stehen, bis die Leute ausgestiegen waren. Ich dachte, ich würde sie noch erwischen, aber sie fuhr genau in dem Moment los, als ich die Tür erreichte. Schwer atmend und voller Wut auf den Fahrer stand ich da. Bis die nächste Tram kam, dauerte es eine halbe Ewigkeit, und als ich eingestiegen war, zuckelte sie, wie ich fand, im Schneckentempo dahin. Die stämmige Frau neben mir meinte gähnend: »Schön, nach Hause zu fahren, oder?« Ich hätte ihr am liebsten eine geklebt.
Als der Fahrer endlich meine Haltestelle ausrief, war es stockfinster. Ich knipste meine schwache Taschenlampe an und machte mich auf den Weg zu dem heruntergekommenen Haus der Jakobis.
Als ich die Eingangstür erreichte, wurde sie gerade geöffnet. Das Licht einer sehr viel helleren Lampe als meiner fiel auf die Beine einer Frau, deren Füße in Schuhen steckten, die ich kannte. Daneben ein Paar glänzender Stiefel. »Wird’s bald, Judenschlampe! Glaubst du, wir haben die ganze Nacht Zeit?«, bellte eine Männerstimme.
Ich fühlte mich so kraftlos, als würde mich ein schweres Gewicht niederdrücken. Mein einziger Gedanke war: Wenn ich doch bloß die erste Trambahn erwischt hätte! Warum hat der Fahrer nicht länger gehalten?
Im selben Moment fiel das Licht der Lampe des SS-Mannes auf meine Beine und Füße und erfasste dann flackernd mein Gesicht und blendete mich. Ich hörte, wie Tante Edith nach Luft schnappte. Sie hatte mich erkannt. Und mir wurde klar, in welcher Gefahr ich schwebte: Da ich direkt vor der Tür stand, befand ich mich offensichtlich auf dem Weg zu ihr, und die SS-Männer würden vielleicht meine Papiere verlangen und wissen wollen, was ich hier zu suchen hatte. Ich musste mir etwas ausdenken. In meinem Kopf hörte ich Raffis Stimme: Spiel Theater, sagte er. Mir fiel ein, dass er mir erzählt hatte, die Tochter der Vermieterin sei etwa in meinem Alter und komme oft die Miete kassieren.
Ich legte ein bisschen Berliner Arbeitermädchen-Akzent in meine Stimme und sprach zu dem Dunkel über den Stiefeln.
»Heil Hitler.« Mein Hals war vor Angst wie zugeschnürt, und ich zitterte, aber das war sicher kein ungewöhnlicher Anblick. Vor der SS hatte fast jeder Angst. »Is das die Frau Jakobi, die Se da abholn? Mama schickt mich, ick soll die Miete abkassiern.«
Er sagte: »Deine Mutter ist ihre Vermieterin, ja?«
»Janz jenau«, bestätigte ich. Die Taschenlampe war immer noch zu hell. Ich musste den Blick senken. »V-vielleicht hat se ja jenuch Geld bei sich?«
Er wandte sich um, der Strahl der Lampe beleuchtete jetzt nicht mehr mich, sondern Tante Edith. Zunächst konnte ich sie kaum erkennen, weil vor meinen Augen blaue Flecken tanzten.
»Gut, dass du da bist«, sagte sie. »Deine Mutter soll ja ihr Geld bekommen. Ich wusste nicht, dass ich heute … abreise.«
»Na los«, herrschte der SS-Mann sie an, »gib ihr das Geld!«
Sie griff in ihre Tasche und holte die Geldbörse heraus. Dabei fragte sie hastig: »Und wie geht es deinem Bruder? Er war doch krank, nicht wahr?«
Ich wusste, was sie in Wirklichkeit wissen wollte. Raffi, sagte sie damit, erzähl mir von Raffi.
»Is’ wieder quietschfidel«, entgegnete ich, voller Angst, der SS-Mann könnte erraten, was sich hinter diesen Worten verbarg, aber das war offenbar nicht der Fall. »Sitzt daheem und isst grad wat Jutes. Aber was is nu mit Ihnen, Frau Jakobi? Mama wird Se vermissen, Se warn so ’ne jute Mieterin.«
»Schluss jetzt, Mädchen«, befahl der SS-Mann. »Sich um eine dreckige Jüdin zu sorgen, ist Verrat an der Rasse. Deine Mutter kann sich jetzt anständige arische Mieter suchen.«
Auf einmal fürchtete ich, Tante Edith könnte mich nicht richtig verstanden haben, deshalb wandte ich mich noch einmal an ihn: »Mein Bruder will auch zur SS, er hat blonde Haare und blaue Augen, wat meenen Se, ob man den wohl nimmt?«
Der SS-Mann ließ seine Lampe baumeln und sagte mit einer Stimme, aus der nun Selbstzufriedenheit sprach: »Na, er müsste sich einer ganzen Reihe von Prüfungen unterziehen.«
Der Strahl der Taschenlampe bewegte sich wie ein Pendel hin und zurück und beleuchtete abwechselnd den matten Ledermantel und die blank polierten Stiefel des SS-Mannes, während die oberen Hälften von Tante Edith und mir im Dunkeln blieben – und da streckte sie den Arm aus und drückte meine Hand. Ich drückte zurück. Hätte ich sie doch bloß in die Arme schließen und den SS-Mann anbrüllen können, er dürfe sie nicht mitnehmen. Hätte es doch bloß in ganz
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