Nicht ohne dich
verschwand in seinem Zimmer. Ich stand regungslos da und wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
»Mach es schon auf«, sagte Mama und versuchte, aufmunternd zu klingen.
Auf einem dunkelblauen Samtkissen lagen Tante Ediths Aquamarinkette und die passenden Ohrringe. Ich starrte sie an und überlegte, ob er mir das wohl schenkte, damit ich nicht so darunter litt, dass er mich nicht mehr liebte.
Als ich die Schatulle wieder schließen wollte, sagte Mama: »Leg es doch an, Liebling.« Ich kam der Aufforderung nach, aber als Raffi fünf Minuten später herauskam und mich sah, verlor er kein Wort darüber, nicht einmal, nachdem ich mich bedankt hatte.
Kurz darauf kamen Onkel Hartmut und Tante Grete mit einem Paket für mich. Als ich es öffnete, kamen ein Morgenrock und ein Nachthemd aus cremefarbener Seide zum Vorschein.
»Aus Paris«, erklärte Tante Grete lächelnd. »Eine Freundin hat es mitgebracht.«
Das Trägernachthemd hatte einen V-Ausschnitt, und der Morgenrock wurde vorn mit Bändchen geschlossen. Ich fuhr mit der Hand über den weichen Stoff. Onkel Hartmut maß mich von der Seite mit hartem Blick. Ich betete, Raffi würde keine Geräusche mehr machen.
»Wo hast du bloß diese Aquamarine her?«, erkundigte sich Tante Grete. »Wunderschön, die Weißgoldfassung, sehr elegant. Darf ich sie mir mal näher ansehen, Jenny?«
Ich musste es über mich ergehen lassen, dass sie ganz nah an mich herankam, um Tante Ediths Ohrringe und Kette zu begutachten, aber ich fühlte mich fürchterlich unwohl dabei. Hätte ich den Schmuck doch nur abgenommen, bevor sie kamen. Es tat so weh, dass Raffi mich nur angestarrt hatte, nachdem ich mich dafür bedankt hatte.
»Sie haben meiner Mutter gehört«, log Mama mühelos. »Jenny sollte sie zum sechzehnten Geburtstag bekommen.«
Tante Grete seufzte, als hätte sie Omi gern gehabt. Was nicht der Fall gewesen war. Wenn sie einander begegnet waren, hatte sie stets eine gereizte Höflichkeit an den Tag gelegt. »Irgendwelche Nachrichten von Dietrich?«
»Ja«, sagte Mama. »Er ist in Oklahoma.« Der Brief war am Tag zuvor gekommen. »Sie haben ihn zur Arbeit im Lazarett eingeteilt, das gefällt ihm.«
»Er pflegt Amerikaner?«, fragte Tante Grete und seufzte erneut. »Na, hoffen wir, der Endsieg kommt bald, dann können wir ihn nach Hause holen.«
Kapitel Sechzehn
22. November 1943
A n jenem Abend ging ich erst spät mit Muffi Gassi. Mama und ich steckten bis über beide Ohren in Arbeit, sie hatte bis Weihnachten noch zehn Abendkleider zu nähen, und ich arbeitete mit Volldampf an den Spielsachen. Zudem schüttete es schon den ganzen Tag. Als der Regen kurz vor der Verdunklungszeit in ein Nieseln überging, nahm ich Muffi an die Leine und stopfte mir die Taschenlampe in die Tasche.
Muffi schnüffelte an sämtlichen Laternenmasten. Zwar hatte der heftige Regen die Hundemarkierungen größtenteils abgewaschen, aber hin und wieder fand sie doch eine und hinterließ ihre eigene. Ich ging bis zum Kurfürstendamm und drehte dann eine große Runde um den Block mit ihr, um sie für die lange Wartezeit zu entschädigen. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, ob es an diesem Abend wohl einen Luftangriff geben würde, es aber für unwahrscheinlich hielt. Die Bomber flogen lieber bei klarem Himmel.
Als ich wieder in unsere Straße einbog, war es stockdunkel geworden und ich benutzte die Taschenlampe. Ungefähr zehn Meter vor unserem Haus fiel Willi Mingers über mich her. Ich erkannte ihn sofort, weil er so nach Karbolseife stank.
Ich hätte schreien sollen, aber irgendwie schaffte ich es nicht. Plötzlich passierte alles auf einmal und dennoch entsetzlich langsam. Er zog mich an sich und keuchte: »Komm schon, Jenny, du bist doch auch scharf auf mich.« Als er sich mit dem Unterleib an mich drückte, spürte ich die Beule dort – oh nein , dachte ich. Dann presste er gewaltsam seinen Mund auf meinen, und es war einfach ekelhaft, seine Lippen zu fühlen und seinen Speichel zu schmecken. Ich wollte das nicht und wehrte mich, aber er war stark, und jetzt drang seine Zunge in meinen Mund, und das war am allerschlimmsten.
Muffi knurrte drohend. Ich spürte ihren wütend angespannten Körper ganz dicht an meinem Bein – und da lockerte sich Willis Griff. So fest ich konnte trat ich ihm auf den Fuß und stieß ihm den Ellbogen in die Seite – und dann war ich frei, Gott sei Dank. Muffi knurrte immer noch grimmig und tat, als wollte sie zubeißen, doch dazu war sie eigentlich zu
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