Nicht ohne dich
und sie erstickte …
»Nein, Raffi«, sagte ich. »Nein.«
Raffi entgegnete: »Warum sollte es nicht wahr sein? In Polen und Russland haben sie die Juden erschossen, oder etwa nicht?« Er blickte mich an.
»Ja«, flüsterte ich. »Norbert Mingers hat damit angegeben. Aber das ist noch schlimmer.«
»Warum?«, fragte Raffi. »Doch, es ist schlimmer, ich weiß. Es ist wie ein Schlachthof.« Und dann erklärte er: »Und jetzt will ich allein sein, Jenny.«
Ende August flogen die englischen Bomber einen Luftangriff auf Berlin. Im Reichsrundfunk wurde verkündet, sie hätten kaum Schaden anrichten können, und anschließend lang und breit über die Luftwaffenpiloten berichtet, die die Lancaster- und Halifax-Bomber abgeschossen hätten. Trotzdem meldete sich unser dürrer Propagandaminister und Gauleiter von Berlin, Goebbels, danach im Rundfunk zu Wort und forderte alle nicht kriegswichtigen Arbeiter und alle Schulkinder auf, Berlin zu verlassen. Die halbe Bevölkerung floh aus der Stadt. Die Schmids, die Kohls und die Kribsens zogen aus unserem Haus aus, und der alte Herr Berger übersiedelte zu seinem Bruder und seiner Schwägerin nach Schlesien. Frau Mingers blieb, Pech für uns. Von meiner Schule gingen so viele Mädchen weg, dass sie ganz geschlossen wurde.
Ich sagte Mama, ich wolle nicht auf eine andere Schule wechseln – manche waren immer noch geöffnet. Ich war fünfzehn und hätte schon vor einem Jahr von der Schule abgehen können, und außerdem hatte ich von der Nazi-Erziehung die Nase voll.
Mama sagte: »Und womit willst du deine Zeit verbringen, wenn du nicht zur Schule gehst? Du erledigst zwar die Einkäufe, aber das beschäftigt dich nicht den ganzen Tag, nicht einmal in den heutigen Zeiten. Na schön. Du kannst mir bei der Arbeit helfen.« Sie seufzte. »Ich habe weiß Gott genug zu tun.«
Mir war klar, dass ich nicht den ganzen Tag mit Raffi in der Wohnung sitzen konnte, also sagte ich ja.
Am ersten Vormittag ließ sie mich die Säume eines flaschengrünen Kostüms aus Kaschmir und Wolle abstecken und heften, das sie für eine Freundin von Tante Grete machte. Ich tat mein Bestes, doch sie erklärte mir die Arbeit nicht richtig und fauchte mich an, wenn ich Fehler machte.
Ich fauchte zurück: »Mama, als Lehrerin taugst du nichts.«
»Wenn du dir wenigstens Mühe geben würdest!«, sagte sie ärgerlich.
»Hab ich doch.« Ich legte das Kleidungsstück auf Papas Werkbank ab und lief im Raum hin und her. Gepetto blickte resigniert auf uns herab.
»Nicht genug …« Sie hielt inne und rieb sich das Gesicht mit den Händen. Ich sah, wie müde sie war.
»Du willst doch gar keine Hilfe, Mama, du willst die Arbeit lieber selber machen.«
Sie nickte unglücklich.
»Was meinst du, ich könnte aus den Stoffresten Puppen machen, und die könnten wir dann verkaufen«, sagte ich.
Ihr Blick war zweifelnd, doch sie entgegnete: »Also schön. Mach eine Stoffpuppe, dann sehen wir weiter.«
Wenn niemand auf mir herumhackte, nähte ich sogar gern. Ich fabrizierte eine Hexe mit einer langen, gebogenen Nase. Bis zur Abendessenszeit war sie fertig, und ich holte noch ein paar Zweige von dem Baum im Hof, um ihr einen Besen zu basteln.
Mama inspizierte sie eingehend. Ich biss die Zähne zusammen, während sie die Nähte begutachtete, doch dann lächelte sie. »Sie hat Persönlichkeit. Fast wie eine der Marionetten deines Vaters.«
Ich freute mich und war in Gedanken schon bei all den anderen Puppen, die ich herstellen konnte. Als Nächstes wollte ich ein Mädchen im Dirndl machen. Mama hatte ein bisschen grünen geblümten Stoff übrig, der sich gut für das Kleid eignete, und ich konnte eine Schürze besticken; das war eine der nützlichen Fertigkeiten, die ich in der Schule gelernt hatte.
Als an jenem Abend um halb acht die Sirenen heulten, erschrak ich nicht sonderlich. In Charlottenburg waren so wenige Bomben gefallen, dass wir inzwischen Luftangriffen gegenüber fast gleichgültig blieben. Wir öffneten wie immer die Fenster, ließen Raffi allein und versammelten uns im Keller. Ich war bloß ärgerlich, weil ich wieder einmal eine geschlagene Stunde mit Frau Mingers würde verbringen müssen.
Doch die Detonationen kamen näher, und jede einzelne erschütterte den Keller heftiger, als wir es je erlebt hatten. Das Licht ging aus – ich hatte geglaubt, inzwischen daran gewöhnt zu sein, aber jetzt war es wieder richtig schlimm. Muffi saß zitternd auf meinem Schoß und war kurz davor, loszubellen.
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