Nicht ohne dich
Mama streckte mir ihre Hand hin. Ich umklammerte sie ganz fest. Ich konnte nicht richtig atmen, denn ich musste die ganze Zeit an Raffi denken, der ganz allein da oben saß. Mama erwiderte meinen Händedruck. Ich spürte, wie sich ihr Ehering in meine Finger grub. So saßen wir im Finstern und teilten unsere Angst.
Ein heulender Ton schien direkt auf uns herunterzukommen. Der Boden bebte so, dass ich glaubte, er werde unter mir aufbrechen. Von der Kellerdecke rieselte der Putz und ich atmete den Staub ein. Ich kreischte: »Das Haus ist eingestürzt!«
»Noch nicht«, sagte Janke grimmig. Mama gab beschwichtigende Laute von sich, aber ich stellte mir vor, dass Raffi tot war, und konnte diesen Gedanken kaum abschütteln. Ich bebte am ganzen Leib. Muffi begann mir nervös das Gesicht abzulecken. Ihr Atem roch nach Fisch, obwohl sie in letzter Zeit keinen Fisch und kaum Fleisch bekommen hatte. Ich schubste sie beiseite, mir war schlecht. Ein Triebwerk dröhnte direkt über uns hinweg. Janke sagte: »Ich wette, das ist eine Lancaster.«
»Was spielt es schon für eine Rolle, was das für ein Flugzeug ist?«, rief Frau Besenstiel aus. Ausnahmsweise einmal war ich mit ihr einer Meinung. Aber das hielt nicht lange an. »Ach«, fuhr sie fort, »vielleicht interessiert es ja die Friedemanns , vielleicht haben sie den Engländern ja gesagt, wo sie ihre Bomben abwerfen sollen.«
Mama sagte: »Ich will genauso wenig von englischen Bomben getötet werden wie Sie, Frau Mingers.«
Aber ich dachte: Warum haben wir BBC gehört und den Engländern den Sieg gewünscht, wo sie doch versuchen, uns zu töten? Und Karl haben sie auch umgebracht. Und Raffi ist den Luftangriffen ausgeliefert, so wie die Juden im Warschauer Ghetto, und er hatte nicht einmal die Gelegenheit zu kämpfen.
Muffi nieste und schüttelte den Kopf, immer noch zitternd. Ich hielt sie mit der einen Hand fest und umklammerte Mamas Hand mit der anderen, als die nächste Bombe abwärts heulte. Alles schepperte und bebte, ich konnte nicht glauben, dass das Haus stehen bleiben würde, und ich hasste die Engländer aus tiefstem Herzen.
Als die Entwarnung kam, knipsten wir unsere Taschenlampen an und gingen mit wackligen Knien nach oben. Im Hausflur lagen Putzbrocken, die Luft war stauberfüllt. Der Schein von Jankes Lampe fiel auf einen breiten Riss in der Wand, der schwache Strahl zeichnete ihn die ganze Länge bis hinauf zur Decke nach.
»Davon gibt’s bestimmt noch jede Menge«, meinte Herr Tillmann hustend.
»Gehen wir rauf«, sagte Mama zu mir.
Raffi kam, kaum dass wir die Wohnungstür geschlossen hatten, aus Karls Zimmer. Unter unseren Füßen knirschte der heruntergefallene Putz.
»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Mama.
»Ich habe mir das Sieb aus der Küche geholt und auf den Kopf gesetzt«, sagte er. »Und als es so gekracht hat, hab ich geschrien und gebrüllt, so laut ich konnte. Da durfte ich ja Radau machen, weil keiner mich hören konnte.«
Er klang halb verrückt, aber beschwingt, und plötzlich war auch ich irrsinnig glücklich. Ich nahm Mama stürmisch in die Arme.
»Wir leben!«, rief ich. »Wir leben noch!«
Sie hielt mich fest umarmt. Ich wandte mich zu Raffi, so außer mir vor Freude, dass ich ihn fast auch umarmt hätte, riss mich dann aber jäh zusammen. Muffi fing wie wild zu bellen an und lief im Kreis herum. Wir führten uns auf wie Verrückte. Einen Augenblick später ging das Licht wieder an.
Mama nahm meine Stoffpuppen mit, um sie Tante Grete zu präsentieren, und die zeigte sie ihren Freundinnen. Frauen von Nazibonzen, die ihren evakuierten Kindern mit Geschenken ihre Liebe zeigen wollten. Die Damen kauften meine Arbeiten und verlangten nach mehr. Ich fertigte auch größere Puppen an, Jungen und Mädchen und kostümierte Mäuse, Kaninchen und Katzen. Als ich im Oktober sechzehn wurde, war ich ein arbeitendes Mädchen mit eigenem Gewerbe.
Mama hatte mir ein neues Winterkleid aus mitternachtsblauem Kaschmir genäht – für den Stoff hatte natürlich Tante Grete gesorgt. An meinem Geburtstag zog ich es an und trat in den Flur, um es Mama und Raffi zu zeigen. Mama ging um mich herum und unterzog es einer letzten Überprüfung.
Raffi starrte mich lange wortlos an, ehe er eine lederne Schmuckschatulle aus der Tasche zog.
»Ich habe Tante Sylvia gebeten, dir das hier schenken zu dürfen«, sagte er. »Ich weiß, dass Mama gewollt – gewollt hätte, dass du es bekommst. Na los. Mach es auf.«
Er wandte sich ab und
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