Nicht ohne dich
seinem Zimmer und klopfte. Entgegen meiner Erwartung öffnete sich die Tür unmittelbar darauf, und er stand vor mir.
»Es tut mir leid«, sagte ich und fühlte mich auf einmal wie eine Närrin.
Doch er sagte: »Nein, ist schon gut. Willst du reinkommen?«
Ich zögerte – aus Angst, verletzt zu werden, wenn ich seine Einladung annahm. Schließlich tat ich es trotzdem. Muffi kam schwanzwedelnd mit.
Ich sah mich in dem Zimmer um, das einmal Karls gewesen war, als er noch lebte. Karls Cowboybücher standen immer noch im Regal, aber auf dem Tisch stapelten sich Raffis Technikbände. Ganz obenauf lag das Buch über Architektur. Von der Decke baumelte Karls Katzenmarionette aus der Pinocchio-Geschichte. Ich wusste noch, wie wir vor Weihnachten immer sämtliche Pinocchio-Puppen aus der Werkstatt heraufgeholt und eine Szene einstudiert hatten, die wir den Erwachsenen am Heiligabend vorspielen wollten. Karl, Raffi und ich. Ich hatte zu Recht befürchtet, ich könnte verletzt werden, wenn ich ins Zimmer ging, denn die Erinnerung tat weh.
In der Bettdecke war eine Kuhle, in der Raffi gelegen hatte. Ich schloss die Tür, weil ich die Einkaufstasche mit dem Fleisch im Flur hatte stehen lassen und nicht wollte, dass sich Muffi darüber hermachte.
Raffi sagte: »Ich habe die Spinne beobachtet, da, schau mal.«
Die Spinne hatte einen ganz dünnen Leib und lange Beine mit kleinen Verdickungen an den Stellen, wo die Gelenke waren. Sie ließ sich gerade herunter und spann dabei mit tanzenden Beinbewegungen ihren Faden. Muffi wollte sie beschnuppern, aber Raffi schob den Hund weg.
Als die Spinne den Boden erreichte, machte sie sich sofort davon. Raffi setzte sich schulterzuckend aufs Bett. Muffi sprang neben ihn und drehte sich um sich selbst, um es sich auf der Decke behaglich zu machen. Unvermittelt fragte Raffi: »Könnte ich mir den Pinocchio mal ausleihen?«
Seine schmalen, sehnigen Hände spielten jetzt mit Muffis Locken, zupften sie geschickt direkt am Ansatz auseinander, so, wie man es machen musste, damit sie nicht verfilzten. Er sagte: »Ich interessiere mich dafür, wie Marionetten sich bewegen. Weißt du, bei dem Erdbeben in Tokio 1923 blieb nur ein einziges Gebäude stehen, eine ganz alte Pagode. Sie hatte sich mit den Erdstößen mitbewegt. Ich habe mir die Katze angesehen und überlegt, dass sich das Prinzip vielleicht auch auf Gebäude übertragen ließe, aber zum Vergleich würde ich mir gern noch eine andere Marionette anschauen.«
Muffi reckte die Schnauze und seufzte vor Wohlbehagen – sie war glücklich. Ich erinnerte mich daran, wie Raffi einst meine Hände gestreichelt hatte, und war hoffnungslos eifersüchtig auf meinen Hund.
»Ist gut«, sagte ich und stand auf, um die Puppe aus meinem Zimmer zu holen, obwohl ich wusste, dass ich meinen Pinocchio vermissen würde, weil mir damit ein Stück von Papa genommen wurde. Aber unglücklicher als jetzt schon konnte ich ohnehin nicht mehr werden.
Doch Raffi sagte: »Geh noch nicht. Hör mal, der andere Entwurf, an dem ich dran bin, ist eine Küche.« Er ließ Muffi los und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Eure Küche ist so schlecht konzipiert, es wird davon ausgegangen, dass ein Hausmädchen Stunden um Stunden mit Putzen zubringt, aber das wäre gar nicht nötig, wenn alles eingebaut wäre, sodass sich kein Dreck in Ritzen sammeln kann. Und der Herd sollte auch einfacher sauber zu halten sein …« Und dann stockte er. Er stand vom Bett auf und ging durch den Raum, als versuchte er von irgendetwas wegzukommen. Muffi sprang auch hinunter und lief ihm nach, ihr Schwanz immer in Bewegung.
Vor dem Verdunklungsrollo blieb er stehen und sagte: »Als ich noch im Gaswerk gearbeitet habe, gab es Gerüchte – natürlich wollte keiner sie hören, klar …«
Mir war schlecht. Ich hatte diese Gerüchte auch gehört, und auch ich hatte sie nicht hören wollen.
»In Polen soll es spezielle Lager geben, die nur dazu da sind, Juden zu töten. Sie haben eine Art Todesfabrik gebaut, und wenn die Leute aus dem Zug steigen, werden sie in Räume getrieben, wo man sie vergast. Sie können Tausende von Leuten am Tag töten. Und die Leichen verbrennen sie in Öfen – nur ein paar Juden werden am Leben gelassen, damit sie die Überreste herausschaufeln können.«
Ich stellte mir vor, wie Tante Edith nach einer grauenvollen Nacht ohne Essen oder Wasser aus dem Zug geholt und in einen dieser schrecklichen Räume gebracht wurde, wie das Gas aus den Leitungen strömte
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