Nicht ohne dich
vernünftig.
»Du Schlampe!«, jaulte Willi. »Du hast mir wehgetan. Schaff mir bloß diesen bösartigen Köter vom Hals.«
Ich war bereits auf dem Rückzug und zerrte an der Leine, während Muffi ihn zu meiner Freude immer noch drohend anknurrte. »Du hast es verdient, dass man dir wehtut, du Dreckschwein!«, schrie ich ihn an.
Dann rannte ich und blieb erst in unserem Hof wieder stehen. Ich wollte nicht zu Mama in die Werkstatt, sondern sofort ins Bad und mir den Mund auswaschen. Vor allem hatte ich das Bedürfnis, allein zu sein. Die Taschenlampe auf das Kopfsteinpflaster gerichtet, suchte ich den Weg zur Hintertür. In diesem Augenblick glaubte ich Willi schon wieder hinter mir zu hören. Ich schnellte herum und leuchtete ihm ins Gesicht. Aber Muffi gab nur ein unterdrücktes, freudiges Bellen von sich, und dann sah ich, dass es Raffi war.
Erst war ich zu Tode erschreckt, dann außer mir vor Wut, und dass ich den Mund halten musste, solange wir im Hof waren, erzürnte mich noch mehr. Er ging zur Hintertür und ich hörte, wie er sie aufsperrte. Innerlich kochend folgte ich ihm und schloss hinter uns ab. Dann stiegen wir die Treppe hinauf.
Raffi wunderte sich, dass ich nicht sofort etwas sagte, sobald ich die Küchentür hinter uns zugemacht hatte. Sein Mund stand halb offen, was dämlich aussah. Soll er doch warten, dachte ich erbost. Immer noch fühlte ich Willis ekligen Sabber auf meinem Gesicht und ich wollte mich unbedingt säubern. Ich rannte ins Bad und knallte die Tür zu. Dann wusch ich mich und spülte mir den Mund aus, zufrieden darüber, dass ich Raffi links liegen gelassen hatte. Das geschah ihm ganz recht. Anschließend ging ich in die Küche, um ihm die Meinung zu sagen. Wenn er in sein Zimmer gegangen war, wollte ich ihm folgen, er konnte ja nicht abschließen. Doch als ich hereinkam, saß er am Tisch und kraulte Muffis Fell. Er blickte mir herausfordernd entgegen, als hätte ich etwas falsch gemacht.
»Bist du verrückt?«, zischte ich. »Wo bist du gewesen?«
»Nur kurz am Savignyplatz«, antwortete Raffi, wobei er mich weiterhin trotzig anstarrte. »Bisher ist nie was passiert.«
»Nie? Wie lange machst du das schon?«
»Erst seit letzter Woche. Und auch nicht jeden Tag.«
Ich zog scharf die Luft ein. »Ich fasse es nicht. Du hast dein – und unser – Leben aufs Spiel gesetzt, nur um ein paar kleine Ausflüge zu unternehmen?«
»Kleine Ausflüge? Ich bin schier durchgedreht, immer eingesperrt hier drin, Jenny. Du hast ja keine Ahnung, wie das für mich ist, ich musste …«
»Du musst gar nichts außer durchhalten, bis der Krieg vorüber ist«, unterbrach ich ihn.
Da brauste er auf: »Ach ja? Und wie viele Jahre wird das noch dauern? Für dich ist ja alles bestens, du hast deine Arbeit und darfst zum Einkaufen gehen, du kannst dich bewegen , du kannst die Heldin mimen und zu meiner Mutter gehen, sie ein letztes Mal sehen und mir danach erzählen, was sie angeblich gesagt hat …«
Jetzt bebte ich vor Wut. »Willst du damit etwa andeuten, ich hätte mir das ausgedacht?«
Er stand vom Tisch auf. »Nein. Es tut mir leid.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Ich weiß, dass du mich retten willst, Jenny. Aber ich fühle mich wie eine zahme Maus, die ihr zwei euch in einer Kiste haltet. Ihr füttert mich jeden Tag und sorgt dafür, dass der Wassernapf immer voll ist, ich kann sogar trainieren, ihr habt schöne kleine Löcher in die Kiste gebohrt, damit ich nicht ersticke – bloß: Ich bekomme keine Luft mehr.«
»Und wenn dich nun jemand sieht?«, wandte ich ein. »Die Mingers kennen dich zwar nicht, aber sie würden sich fragen, wer da aus unserer Wohnung kommt, und außerdem gibt es noch die Jankes und die Tillmanns.«
»Janke habe ich schon mal getroffen«, entgegnete er.
»Wie bitte?« Mein Mund wurde trocken bis in die Kehle.
»Er hat nur gemeint: ›Keine Angst, Junge, ich erzähl es niemandem.‹«
»Die Besenstiel kann Janke nicht ausstehen, wenn sie ihn nun bei der Gestapo denunziert? Die quetschen alles aus ihm heraus, was er weiß. Alles, Raffi. Und wem bist du sonst noch über den Weg gelaufen?«
»Nur Frau Tillmann. Sie ist in Ordnung. Sie hatte es ohnehin schon geahnt, seit mir die Hantel runtergefallen ist.«
»Wenn dich einer von den Mingers sieht, werden sie auch ihre Schlüsse ziehen. Ach Gott, Raffi, wie konntest du nur? Wenn Tante Edith das wüsste …«
Er holte tief Luft. »Meine Mutter ist vermutlich tot. Vergast worden. Und ich bin noch hier und
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