Nicht ohne dich
Augenblick später schlug heulend eine Bombe ein und alles wackelte.
»Schon gut, Tommy«, murmelte Herr Hildebrand. »Wirf deine Bomben ab und verzieh dich wieder, damit ich zu meiner Frau kann.«
Wie aufs Stichwort fiel gleich darauf eine zweite Bombe, dann noch eine und noch eine und schließlich ein ganzer Bombenhagel. Der Boden unter meinen Füßen bebte und die Säule an meinem Rücken zitterte so stark, dass ich glaubte, sie würde über mir einstürzen. Es nahm kein Ende. Das war der schlimmste Luftangriff, den wir je erlebt hatten. Als ich so dakauerte, ging mir durch den Kopf, wie schlimm es in Köln und an der Ruhr sein musste, in all den Städten, die von den Engländern schon seit letztem Jahr unter Beschuss genommen und mit Hunderten, wenn nicht gar tausend Bombern angegriffen worden waren. Es hörte sich an, als wären es auch heute Nacht tausend. Und die Tunnel der Untergrundbahn waren nicht besonders tief unter der Erde, ebenso wenig wie unser Keller zu Hause. Der Gedanke an Mama quälte mich. Es war schrecklich, so weit weg von ihr zu sein, ohne zu wissen, was mit ihr geschah, und auch sie würde sich fürchterliche Sorgen um mich machen. Alles lief von Grund auf verkehrt und ich hatte solche Angst.
Die Leute um mich herum hielten die Köpfe gesenkt und die Augen geschlossen. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass man Angst riechen konnte. Damals hatte ich es nicht geglaubt, aber jetzt konnte ich mich selbst davon überzeugen, denn die Luft war so erfüllt von scharfem Angstschweiß, dass mir die Augen tränten. Wahrscheinlich roch ich selbst auch nicht anders. Muffi steckte die Schnauze unter meinen Arm und ließ sie dort vergraben.
Herr Hildebrand legte sich die Aktentasche auf den Kopf, um sich vor herabfallenden Trümmern zu schützen. Dann überlegte er kurz, nahm sie wieder herunter, zog einen Aktenordner heraus und reichte ihn mir. »Pass gut darauf auf!«, schrie er gegen den Bombenlärm an. »Das sind wichtige Unterlagen.«
Mit der einen Hand hielt ich mir den Aktenordner über den Kopf, während ich mit der anderen Muffi umklammerte. Ganz in der Nähe schlug eine Bombe ein und die gewaltige Explosion schien die ganze Erde in Stücke zu reißen. Schwärze umfing mich: Ich bin tot, dachte ich. Muffi jaulte wie ein verängstigter Welpe. Aber wenn ich sie hören konnte, musste ich wohl noch am Leben sein, und einen Moment später knipste jemand eine Taschenlampe an, dann leuchtete eine weitere auf, dann noch eine. Muffis Fell war voller Putz und scharfkantiger Ziegelbrocken. Nicht weit von mir schluchzte eine Frau, doch der nächste Bombeneinschlag übertönte sie.
Ich beugte mich tief über Muffi, während ich mir immer noch dieses Ding schützend über den Kopf hielt – was es war, hatte ich vergessen. In meinen Ohren klingelte es und mir war schlecht.
In einer kurzen Ruhepause zwischen den Detonationen stieß Herr Hildebrand hervor: »Meine Frau ist ganz allein im Haus.«
»Ist sie denn nicht mit anderen Leuten im Keller?«, erkundigte ich mich.
»Wir leben nicht in einer Wohnung, sondern in einem Haus«, sagte er. »Draußen in Dahlem.«
»Ich mache mir Sorgen wegen meiner Mama …«, setzte ich an, aber da heulte eine weitere Bombe herab und schnitt den Rest meines Satzes ab.
Der Angriff nahm kein Ende.
Irgendwann dehnte sich die Pause nach einer Angriffswelle sehr lange aus, und schließlich realisierte ich, dass der Angriff vorüber war.
Mama, dachte ich sofort. Ich muss zu Mama. Aber was ist mit Raffi? Was soll ich mit ihm machen?
Mir fiel wieder ein, was das für ein Ding war, das ich mir über den Kopf gehalten hatte, und gab Herrn Hildebrand den Aktenordner zurück. Er nahm ihn in Empfang, als sähe er den Ordner zum ersten Mal.
»Warum geben sie denn nicht endlich Entwarnung?«, fragte er ungeduldig. »Ich muss nach Hause.«
Dann ging die Entwarnungssirene los, und alle rappelten sich gleichzeitig auf, man hörte Füße scharren und sah den matten Lichtschein zahlreicher Taschenlampen, die hektisch umherleuchteten. Ich nahm Muffi auf den Arm, damit niemand im Dunkeln auf sie trat. Raffi konnte ich nicht sehen, aber selbst wenn, hätte es nichts geändert. Ich wurde von der Menge vorwärts geschoben. Mein Mund war ganz trocken vor Angst, was mich draußen erwarten würde.
Ich hörte das Feuer, ehe ich es sah, ein Heulen und Brüllen vor dem Eingang zum U-Bahnhof. Der Rauch drang mir in die Kehle.
Wieder fing Muffi zu winseln an, sprang mir vom Arm und versuchte
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