Nicht ohne dich
zurück in den Untergrund zu laufen. Glücklicherweise entglitt mir das Ende der Leine nicht, sonst hätte sie in diesem Gewühl Gott weiß was für ein Chaos verursacht. Ich zerrte sie zurück. Sie schlüpfte zwischen meine Beine und blieb hustend dort hocken. Mir fiel ein, dass ich ein Halstuch in der Tasche hatte. Ich band es mir vor Mund und Nase. Dann nahm ich Muffi hoch und versuchte ihr mein Taschentuch über die Nase zu halten, aber sie wehrte sich und vergrub stattdessen wieder die Schnauze unter meinem Arm. Hoffentlich würde sie das vor dem Qualm schützen.
Gottlob hatte sie wenigstens aufgehört, sich zu winden.
Die Flammen, die aus den Fenstern der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche loderten, sahen aus wie orangefarbene Vorhänge, und über allem lag roter Feuerschein. Eine schwarze Rauchwolke bewegte sich in meine Richtung, ihr beißender Geruch drang durch mein Seidentuch.
»Wir müssen nach Hause«, sagte ich verzweifelt zu Muffi. Plötzlich stand Raffi neben mir, er war dabei, sich ein Taschentuch vors Gesicht zu wickeln, während er auf die brennende Straße starrte. Er bemerkte uns erst, als Muffi unter meinem Arm zu kläffen begann, woraufhin er sich uns zuwandte.
»Jenny«, sagte er, »bist du mir etwa gefolgt?«
»Ja«, entgegnete ich. »Obwohl ich weiß, dass du das nicht wolltest.« Er erwiderte nichts darauf.
»Ich muss jetzt nach Hause und nachschauen, ob Mama noch lebt«, sagte ich.
Mir schwirrte der Kopf vom Schock und dem Rauch und der Hitze. Auch wenn Raffi mich nicht mehr gern hatte, dachte ich, Mama hatte mich noch gern.
Ich setzte mich in Bewegung. Eine kalte Windbö blies eine Aschewolke zu mir her. Als ich mich und Muffi sauber machte, fröstelte ich plötzlich, und es kam mir ganz unwirklich vor, dass es trotz all dieser Hitze überhaupt noch kalte Luft gab.
Vor mir tauchte ein Mann mit einem Koffer in der Hand auf, als hätte er sich aus dem Rauch materialisiert.
»Wissen Sie, wie es am Savignyplatz ist?«, fragte ich ihn.
Der Mann schüttelte den Kopf wie ein Irrer. »Überall Feuerstürme. Da ist bestimmt kein Mensch mehr am Leben.«
Ich brach in Tränen aus. Wütend entgegnete ich: »Das kann nicht sein. Erzählen Sie mir keine Lügen.«
Nun begann ich zu rennen, aber wegen der vielen Trümmer musste ich wieder auf Schritttempo verlangsamen. Es lagen auch überall Glasscherben herum – gut, dass ich Muffi auf dem Arm hielt. Auf meinem Weg den Kurfürstendamm entlang, den ich kaum wiedererkannte, versuchte ich die Worte des Mannes zu verdrängen. Einmal glaubte ich zu hören, wie Raffi »Jenny!« rief, aber das konnte nicht sein, er wollte doch frei sein, oder? Er würde mir nicht folgen.
Das Seidentuch klebte mir an Nase und Mund, nass vor Tränen oder vielleicht auch vor Schweiß, denn immer noch wurde die sengende Hitze der Flammen zu mir geweht. Menschen stolperten durch den Rauch, improvisierte Gesichtsmasken über der unteren Gesichtshälfte, sie husteten und weinten und schoben voll beladene Kinderwägen, trugen Koffer, hielten Kinder auf dem Arm und gingen blindlings vorwärts, denn überall schien es gleich schlimm zu sein. Mitten auf der Straße stand eine ausgebrannte Trambahn, das Metall verbogen und zerrissen.
Urplötzlich gab es einen Riesenkrach und eine Druckwelle, und dann weiß ich nur noch, dass ich auf dem Boden lag und es rundherum dunkel war.
Einen Augenblick lang fühlte ich nichts, aber ich konnte Arme und Beine bewegen, als ich es probierte. Meine Knie und Ellbogen brannten. Ich musste sie mir aufgeschrammt haben. Ich dachte: Wenn ich sonst keine Schmerzen habe, fehlt mir offenbar nichts. In der Dunkelheit konnte ich ein kleines rotes Loch mit gezackten Kanten ausmachen, nicht größer als mein Kopf. In nächster Nähe brüllte das Feuer, als wollte es mich fangen und verschlingen.
Eine warme Zunge leckte mir übers Gesicht. Muffi.
Ich streckte die Hand aus und fand ihre Stirn. Als ich ihr über den Rücken und die vier Beine und Pfoten strich, ließ sie es sich ohne Jaulen gefallen, deshalb nahm ich an, dass sie ebenfalls unverletzt war. Ich tastete mit den Händen die Umgebung ab. Auf der einen Seite stieß ich auf Schutt, über mir auf einen rauen Metallträger, und darüber schien sich eine Ladung Ziegel und Mörtel zu befinden. Wir hatten Glück gehabt. Bis jetzt jedenfalls.
Ich schob mich vorwärts und versuchte, das Loch zu vergrößern. Es gelang mir, einige Ziegel zu entfernen, aber dahinter waren drei weitere Balken
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