Nicht ohne meine Schokolade
trostlosen Umgebung nicht paßte.
Laut, zudringlich, eingebildet und aggressiv wie er war, schien Officer Kenny Bates eine viel höhere Meinung von sich selbst zu haben als alle, die ihn kannten. Als sie ihm fünf Jahre zuvor zum ersten Mal begegnet war, hatte Savannah beschlossen, über all die Irrungen und Wirrungen von Ken Bates’ Psyche nachzudenken, wenn sie irgendwann fünf Minuten übrig hätte. Vielleicht würde sie das Geheimnis dann lüften: War er wirklich ein unsicherer, gequälter Mann, der versuchte, seine Probleme zu überkompensieren, oder war er einfach nur ein wichtigtuerischer Scheißkerl?
Bis jetzt hatte sie noch keine Zeit dazu gehabt.
»Das ist Stadträtin Beverly Winston«, sagte Savannah, und versuchte, den Ernst der Situation in ihre Stimme zu legen.
Bates beachtete das nicht weiter.
»Hi! Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er und ließ seine Zähne in einem Lächeln aufblitzen, das nur durch ein Stück hartgekochtes Ei, das zwischen zwei Schneidezähnen steckte, getrübt wurde. Er lehnte beide Ellbogen auf den hüfthohen Schreibtisch und neigte den Kopf seitwärts, während er der Stadträtin einen prüfenden Blick zuwarf. Glücklicherweise beschränkte sich seine Neugier auf ihr Gesicht, statt sie — wie sonst bei ihm üblich — mit seinem »Aufzugblick« auszuziehen, von Kopf bis Fuß und wieder zurück, an jedem Stockwerk anhaltend, um den Anblick zu genießen.
Vielleicht hatten die Kurse über sexuelle Belästigung, die er kürzlich mitgemacht hatte, ihn ja doch etwas erleuchtet. Oder vielleicht war Beverly Winston auch einfach nur etwas zu reif und gesetzt für seinen Geschmack.
»Wir müssen eine Identifikation vornehmen«, sagte Savannah und fixierte ihn mit ihrem strengsten »Wach-auf-du-Arschloch«- Blick. Officer Kenny kapierte immer noch nicht.
»Kann ich bitte die Liste haben ?« fragte Savannah, lehnte sich über den Tisch und nahm ihm das Klemmbrett aus der Hand. Sie holte einen Stift aus ihrer Tasche und kritzelte ihren Namen, Beverlys Namen und die Uhrzeit darauf.
»Und wann gehen wir beide mal miteinander aus ?« fragte er und senkte die Stimme zu einem, wie er wahrscheinlich glaubte, tiefen, rauhen und erotischen Flüstern. Aber »erotisch« war nicht das Wort, das Savannah als erstes in den Sinn kam. Sein Ton erinnerte sie an ein paar obszöne Anrufe, die sie um drei Uhr morgens erhalten hatte... und war auch ebenso stimulierend.
Mit erheblich mehr Kraft, als notwendig gewesen wäre, stieß sie das Klemmbrett über den Tisch zu Bates hinüber. Die harte, scharfe Kante traf sein Zwerchfell und nahm ihm diesmal buchstäblich den Wind aus den Segeln.
»Wenn Sie bitte mit mir kommen würden«, wandte Savannah sich an Beverly und faßte sie sanft am Ellbogen. »Hier entlang. Es dauert nicht lange, versprochen, es ist schnell vorbei .«
Savannah spürte, wie sich die Frau bei der Berührung verkrampfte, und ließ sie sofort los. »Mir geht es gut, Detective Reid«, sagte sie und hob das Kinn. »Lassen Sie es uns hinter uns bringen .«
Savannah fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ein vorstehender Kieferknochen tatsächlich ein Zeichen für einen starken Charakter war. Bei Stadträtin Winston schien das der Fall zu sein.
Savannah deutete mit der Hand auf den Korridor zu ihrer Rechten. »Hier entlang«, sagte sie und paßte sich Mrs. Winstons schroffem Ton an. Wenn die Stadträtin einen geschäftsmäßigen Ton der mütterlichen Behandlung vorzog, kein Problem.
Savannahs flache, weiche Lederschuhe waren lautlos im Gegensatz zum Stakkato, das Beverlys Gucci-Pumps machten, als sie energisch den Flur entlangschritt. Der graue Linoleumboden glänzte und reflektierte die weißen Lichtkreise der Deckenbeleuchtung.
Savannah warf Beverly einen heimlichen Blick zu und war überrascht über deren kühles, gefaßtes Verhalten. Schon allzu häufig war sie mit Menschen diesen Korridor entlanggegangen, die sich die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen ansehen sollten, aber niemals hatte Savannah eine solch beherrschte Reaktion gesehen.
Selbst wenn die Person, die diesen Flur hinabgeführt wurde, sich später als Mörder entpuppte, zeigte er oder sie bei dieser Gelegenheit normalerweise mehr Gefühle als Beverly.
»Wie lange waren Sie mit Mr. Winston verheiratet ?« fragte sie. Sie fand es etwas taktlos, das Thema zu diesem Zeitpunkt anzuschneiden, aber es wäre noch peinlicher gewesen, schweigend weiterzugehen oder über das Wetter oder das letzte Spiel der Lakers
Weitere Kostenlose Bücher