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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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aufgehoben hatte.
    Teppich, sagte Viktor. Bei dem Bekannten sei das zarte Ding nicht am richtigen Platz gewesen. Der hätte es womöglich ausgebreitet auf seinem Bett, um es zu betrachten und um traurig zu werden. Viktor hatte Marions Hemd dahin zurückgebracht, wo es hingehörte, in den hiesigen Wäschesack.
    Paul wollte nicht nicken, aber er nickte.
    Kurz und gut, sagte Viktor: Die Geschichte hat für alle Beteiligten schlussendlich nicht die schlechteste Wendung genommen.
    Paul überlegte, ob er einer der Beteiligten sei.
    Marion ging abends selten mehr aus. Vermutlich war es das, was Viktor vorausgesehen hatte. Sie lebte nun eher für sich, vor dem Computer oder irgendwo in der Wohnung.
    Das Gästezimmer, das früher tageweise Marions Mutter beherbergt hatte und dann Winterkleider, Schuhe und Schachteln aufnahm, war jetzt ihre Rückzugsnische. Wenn Paul allein im Ehebett lag, erstreckte sich das Feld der Matratze fast ins Uferlose.
    Einmal hörte er ein Tasten an der Schlafzimmertür. Marion stand im Finstern auf der Schwelle. Der
Schein ihres hellen Pyjamas und ihres Gesichts wurde klarer, je länger sie da verharrte. Paul stützte sich auf den Ellenbogen. Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand.
    Sie flüsterte: Ich glaube, ich habe den Heimweg verloren.
    Vielleicht träumte sie. Paul kam es vor, als nähme sie es den Wegen übel, dass keiner von den vielen mit „Heimweg“ beschildert war.

D ie von Viktor angekündigte Aushilfe kam an, begleitet von Bára, ihrer Tante, die laut und herzlich auf Paul zuging, ihn sogar umarmte. Die Nichte, Madlenka, reichte ihm die Hand. Er wunderte sich zum ersten Mal, dass eine Hand so ganz am Ende eines langen Armes gedieh. Madlenka war noch ein halbes Kind, und dieses Halbe verwirrte oder verwickelte ihn, denn ihre zweite Hälfte war eine Frau. Wenn Paul die Frau sah, zeigte sich blitzschnell das Kind und umgekehrt.
    Bára führte Madlenka mit einem lückenlosen Schnattern in ihre Arbeit ein, überliess sie aber bald schon dem Hausherrn zur Aufsicht oder Betreuung. Doch Paul kam kaum dazu, dem Mädchen Anweisungen zu geben. Madlenka sah und erriet sofort, was fällig war. Sie sprach begeistert deutsch. Sie schien alles aufzubieten, was sie sich in Kursen angeeignet hatte. Zum Abschied bot sie Paul die eine, dann die andere Wange, dann nochmal die eine an. Beim Wechsel der Wangen streiften sich fast ihre Lippen.
    Den Nachmittag des nächsten Putztermins hielt Marion sich frei. Der neuerliche Wechsel der Putzkraft beunruhigte sie. Bára hatte ihr ganzes Vertrauen gehabt, und Marion war nicht bereit, dieses Vertrauen beliebig weiter zu verschenken. Über Viktor sagte sie nichts.
    Beim Kaffee, Madlenka hatte sogar Streuseltörtchen mitgebracht, kam Paul sich sofort überflüssig vor.
Marion war in wunderbarer Laune. Sie scherzte, und Madlenka getraute sich laut zu lachen. Bei einem gemeinsamen Lachschwall legte Marion eine Hand auf Madlenkas Schulter. Paul stellte die drei leergetrunkenen Tassen in den Spültrog und liess die Frauen allein.
    Madlenka arbeitete länger als vorgesehen. Das Nachtessen war schon bereit, als sie durch den Türspalt in die Küche winkte und ging.
    Paul betrachtete die Wasserlocken und -flechten des Kanals, dem er entlang ging. Das Wasser drängte über eine Schwelle, rauschend, aufglucksend. Die hohen Halme des blühenden Grases wippten.
    Eine Herde kleiner Kinder, alle mit einem Kopfschutz gegen die Sonne, mit der man rechnen musste, die Jungen mit beigen flachen Hütchen, die Mädchen mit Kopftüchern in bleichem Blau. Die Kinder liefen mit willigen Beinen den Weg entlang. Alessandro!,
rief eine der drei Betreuerinnen, und dann wieder: Alessandro! Da keines den Kopf umwandte oder im Laufen innehielt, fand Paul nicht heraus, welches der Kinder mit Alessandro gemeint war.
    Sie hatten unterdessen eine Bank erreicht und sassen aufgereiht da. Die Bank musste das Ziel eines Wettrennens gewesen sein, das die vielen rundlichen Waden zum Laufen animiert hatte. Die Betreuerinnen zogen verrutschte Hüte und Kopftücher zurecht, machten sich am Klettverschluss eines Schuhs zu schaffen. Ein weinender Junge brauchte Trost und bekam ihn.
    Vier wechselnd bewölkte Tage später war Paul wieder am Kanal. Das Wasser floss schwerer diesmal, dickflüssiger, ein kompakter dunkler Leib. Eine Wolke dämpfte das Licht. Die Grasböschung lag kahl, hellgrüne
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