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Nicht schwindelfrei - Roman

Nicht schwindelfrei - Roman

Titel: Nicht schwindelfrei - Roman
Autoren: Haymon Verlag
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würde der Cellobogen über eine seiner Sehnen geführt, am Hals beispielsweise, am Nacken, und das Vibrieren des ganzen Schädels erklärte auch, warum er dann weinte. Ein Gefühl des Unerreichbaren nahm überhand. Eine Sehnsucht, deren Erfüllung nichts anderes sein konnte, als eben dieser Celloklang.
    Im Übrigen war er dankbar für jede Regelmässigkeit, die der Monatskalender in der Küche ihm anzeigte. Jede Woche, immer am Montag, Müllabfuhr, vierzehntäglich am Mittwoch Papier, vierwöchentlich am Donnerstag Karton. Dann war da noch vierzehntäglich am Dienstag der Putztermin.
    Paul überhörte die Klingel. Viktor öffnete die Wohnungstür und rief durch einen schmalen Spalt: Ist es erlaubt?
    Beim Kaffee sprachen die Männer über die Jagd auf Nashörner und Elefanten. Viktor schien eine Potenzsteigerung durch ein Pulver aus gemahlenen Hörnern und Stosszähnen nicht ganz auszuschliessen.
    Er erzählte von ländlichen Bräuchen in seiner Heimat, von seinem Onkel, der Hasen und Fasanen jagte. Dazu kamen, einmal im Jahr, wilde Kaninchen. Der Onkel traf sich dann lange vor Sonnenaufgang mit seinen Kollegen und war erst am folgenden Abend wieder zurück, den Kofferraum bis oben mit erlegten Tieren gefüllt. Sand klebte in den braunen Fellen.
Man wusste, dass die Jäger in der Abenddämmerung mit Laternen in die Büsche leuchteten und dass die geblendeten Kaninchen leicht zu schiessen waren. Einer der Männer holte die Beute und trug sie an den noch warmen Ohren bündelweise hinter den Kollegen her.
    Verzeihung, sagte Viktor, als er merkte, dass Paul stumm blieb. Die frisch geschossenen Tiere zucken nur noch kurz, dreimal, viermal. Es tut mir Leid, Herr Paul, falls ich Ihnen ein Unbehagen bereitet habe.
    Paul hob den Kopf.
    Sie zucken vor Schreck, Herr Paul, nicht vor Schmerz.
    Wer?
    Die Kaninchen.
    Paul war aufgestanden. Ich möchte solche Dinge nicht hören, Viktor, sagte er. Ich eigne mich nicht dafür.
    Beim nächsten Museumsbesuch überliess er die Führung probeweise einem Audioguide. Der junge Betreuer der Geräte, vermutlich ein Student, unterhielt sich so locker mit einem amerikanischen Paar, als käme er aus derselben Kleinstadt, zum Beispiel Winesburg. Als Paul an der Reihe war, schob der Student ihm einen für Deutschsprachige eingestellten Guide über den Tisch.
    Français, sagte Paul.
    Der Student erklärte ihm auf Französisch, wie die gewünschte Sprache anzuwählen war.
    So ausgerüstet betrat Paul den Raum, der gleich vor ihm lag. Frühe Skulpturen von Alberto Giacometti. Eine Frauenstimme sagte: … au rand d’un object de culte rituel. Mit der französischen Sprache des Kommentars war gleich auch Paris da, ein weit ausgestreckter Himmel, Alleen und etwas Wind.
    Die weibliche Stimme und ihre Sprache verwandelten das besprochene Werk und mehr noch: Alle Objekte des Künstlers waren mit einem Schlag, einem Lidschlag, davon berührt. Die „Petite figurine sur double socle“, so klein wie ein mittlerer Nagel und ebenso dünn unter einer übergrossen durchsichtigen Haube, erschien nun nicht mehr ausgesetzt und einsam. Der Raum um sie gehörte untrennbar zu ihr, wie ein Ruf, der mit dem Echo eins wird. Sie stand allein auf weiter Flur, die Petite figurine, doch was hiess das schon, wenn es eine Flur von dieser Weite war.
    Geehrt von der Aufmerksamkeit einer französischen Dame, zeigten Böcklin, Koller, Hodler sich von ihrer wackersten Seite. Vor Robert Zünds „Eichenwald“ schaltete Paul das Gerät aus. Hier stand er lieber ohne Begleitung.
    Er brachte den Audioguide zurück und verliess das Museum. Draussen war es sehr hell. Eine Vorortbahn brachte ihn auf eine hügelige Höhe. Hinter bäuerlichen Wohnhäusern mit Terrassen und Garagen nahm er einen Wanderweg, der geradeaus auf einen Wald zulief. Die Namen von Kräutern fielen ihm ein. Storchenschnabel, Waldmeister, sagte er laut. Die Wörter dufteten aus einem sonnenfleckigen grünen Gewühl. Die Tannen rochen nach Tannen.
    Er schaute den Weg entlang, auf dem er stand. Durch eine Senke führte er über Stufen auf eine goldgrüne Lücke zu. Dort bog er ab. Paul folgte ihm. Nach der Biegung erkannte er, wie viel, wie uneinholbar viel der Weg schon Vorsprung hatte. Es war gut zu wissen, dass der Weg weiterging und dass er niemanden dazu brauchte. Bei einer Gabelung musste er
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