Nicht so laut vor Jericho
weitergeht, können wir unsere Show nicht herausbringen.
Joe ertrug es nicht länger. Er ging selbst hinunter, um die ›New York Times‹ abzufangen.
Wir warteten mit zum Bersten angespannten Nerven. Wo bleibt er so lange. Die Morgenausgabe der ›Times‹ müßte doch schon längst draußen und Joe schon längst hier sein.
Die Türe fliegt auf. Joe, ein Lächeln überirdischer Glückseligkeit im Antlitz, schwenkt die ›Times‹:
»Wir sind gerettet! Ein mörderischer Verriß! Halleluja!«
Seit Donnerstag probieren wir im Corona-Theater. Es hat eine wunderbar intime Atmosphäre, nicht zu vergleichen mit der puritanischen Kühle der Methodistenkirche. Auch die Akustik ist hervorragend. Dementsprechend schreiten unsere Proben in bester Stimmung voran. Es wimmelt von neuen Regieeinfällen. Unsere Hoffnung auf einen durchschlagenden Erfolg steigert sich von Tag zu Tag.
Das einzige, was uns ein wenig stört, ist eine geheimnisvolle Gruppe dunkel gekleideter Männer, die mit tief ins Gesicht gezogenen Hüten in einer Ecke stehen und miteinander flüstern. Einer unserer Bühnenarbeiter will gesehen haben, daß sie in den zweiten Stock hinaufgegangen sind, wo sich das Privatbüro des Hauseigentümers befindet.
Was mögen sie dort zu suchen haben? Oder gar zu besprechen? Was?
Fremd in St. Pauli
Aus dem Sündenbabel New York zurück ins sittenstrenge Hamburg, dessen wohlsituierte Einwohner von Jahr zu Jahr um eine Kleinigkeit früher schlafen gehen. Noch vor zwei Jahren wurde in den Hamburger Bürgerhäusern das Licht erst um 21.30 Uhr abgedreht. Heute tritt bereits um 19.45 Uhr vollständige Verdunkelung ein. Wenn das so weitergeht, wird man an der Waterkant über kurz oder lang am Nachmittag mit der Nachtruhe beginnen und nach einiger Zeit überhaupt nicht mehr aufstehen.
Der Fremde, der in Hamburg nach neun Uhr abends durch die Straßen geht, hat das dumpfe Gefühl, der einzige Überlebende in einer ausgestorbenen Stadt zu sein. Vielleicht stößt er an einer Ecke mit ein paar schwankenden Gestalten in Matrosenkleidung zusammen, aber das sind ja gleichfalls Fremdlinge. Irgendwelche Anzeichen eines organischen Lebens gibt es in dieser Zweimillionenstadt nach neun Uhr abends nicht. Ausgenommen…
Ausgenommen St. Pauli. Dort konzentriert sich alles, was sich in anderen Großstädten auf verschiedene Viertel oder Straßenzüge verteilt. Dort gibt es Menschen, Lärm und Musik bis in die frühen Morgenstunden.
St. Pauli ist eine interessante Mischung von Las Vegas und Sodom. Blühende Spielcasinos wechseln mit Striptease-Lokalen, deren sexuelle Aufklärungs-Akte selbst dem abgebrühtesten Eunuchen aus Singapur die Schamröte ins gelbe Gesicht treiben. Opiumhöhlen für Transvestiten, Transvestitenhöhlen für Opiumraucher und fachmännisch geleitete Massenorgien für gestrandete Seefahrer vervollständigen das Programm.
Die ehrsamen Hamburger Bürger wollen natürlich von St. Pauli nichts wissen und sprechen nie davon. Dem Fremden, der das dennoch tut, begegnen sie mit väterlicher Nachsicht und dem entschuldigenden Hinweis auf den leider nicht wegzuleugnenden Umstand, daß Hamburg eine Hafenstadt ist. Das hat nun einmal gewisse Entartungserscheinungen zur Folge, mit denen man sich wohl oder übel abfinden muß.
Nehmen wir etwa den Manager des Hotels, in dem ich abgestiegen war:
»Ich für meine Person«, sagte er, »würde für nichts in der Welt die Reeperbahn aufsuchen. Bei Ihnen, mein Herr, ist das natürlich etwas andres. Sie als ausländischer Journalist sind geradezu verpflichtet, alles kennenzulernen, was unsere Stadt zu bieten hat. Sie dürfen aber«, fügte er mahnend hinzu, »unter gar keinen Umständen allein nach St. Pauli gehen. Die Gangster und Unterwelttypen, von denen es dort nur so wimmelt, würden Sie in den erstbesten dunklen Hausflur zerren und Sie bis zum letzten Pfennig ausrauben.«
Ich dankte ihm mit bewegten Worten und fragte, ob und wo ich vielleicht jemanden finden könnte, der mich begleiten würde.
»Hm. Das ist ein schwieriges Problem. Es kommt natürlich nur ein erfahrener Weltmann als Begleitperson in Betracht. Einer, der sich wirklich auskennt. So wie ich.« Er überlegte einige Sekunden und wandte sich an seine Gattin. »Was meinst du, Liebling?«
»Ich meine, daß du den Herrn begleiten solltest«, lautete die prompte Antwort.
»Nein, Gertrude, nein!« Der Manager schüttelte sich vor Widerwillen. »Alles, nur das nicht!«
»Manchmal«, widersprach
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