Nicht so laut vor Jericho
ohne mich nach St. Pauli?« fragte ich.
»Unmöglich«, antwortete der Sprecher der Delegation. »Wir sind anständige Bürger und haben nicht das geringste Interesse an den Dingen, die angeblich in St. Pauli vorgehen. Wir möchten bloß vermeiden, daß ein prominenter Gast wie Sie einen falschen Eindruck von unserer Stadt bekommt.«
Aus der Limousine, die rechts vom Hoteleingang geparkt hatte, winkte mir mein unbekannter israelischer Freund und gab mir durch Zeichensprache zu verstehen, daß wir sofort losfahren könnten. Es half nichts – ich mußte eine Entscheidung treffen, sonst wäre halb Hamburg lahmgelegt.
»Also gut«, rief ich. »Donnerstag.«
Die Menge brach in Hochrufe aus und mein Entschluß verbreitete sich mit Windeseile durch die Stadt. Fernschreiber tickten, chiffrierte Meldungen wurden durchgegeben, und der Norddeutsche Rundfunk verlautbarte in seinen Abendnachrichten eine Reihe von Verkehrsbeschränkungen für den kommenden Donnerstag.
Der Konvoy, der sich zur vereinbarten Zeit auf den Weg machte, bestand aus etwa einem Dutzend Privatautos und einigen Autobussen mit mutigen Bürgern, die entschlossen waren, über mein Wohl zu wachen. Einigen von ihnen merkte man ganz deutlich an, daß sie St. Pauli zum ersten Mal sahen und keine Ahnung hatten, was sie tun sollten. Ich führte sie durch dunkle Straßen, unbekümmert um die ausschwärmenden Dirnen und Zuhälter, die mich jedoch in kein wie immer geartetes Haustor zerrten, weil ich so gut bewacht war. Der Hotelmanager an meiner Seite klatschte beim Anblick jeder weiblichen Gestalt vor Vergnügen in die Hände und hatte Freudentränen in den Augen. Meine übrigen Begleiter verloren sich allmählich je nach Neigung.
Als wir uns wieder bei unserer Wagenkolonne versammelten, zeigte sich, daß uns einige Teilnehmer abhanden gekommen waren, darunter ein Musikkritiker und sein Cousin, die in einem Striptease-Lokal für Transvestiten ein lohnendes Engagement gefunden hatten. Ich selbst wurde von einem Reisebüro unter Vertrag genommen und fungiere seither unter der Chiffre »Eine Nacht in St. Pauli« als Fremdenführer für Einheimische.
Podmanitzki hat endlich Erfolg
Auch das israelische Theater steht im Zeichen der Avantgarde und erntet damit den Beifall vor allem jener Zuschauer, die kein Wort von dem verstehen, was auf der Bühne vorgeht. Sie haben auch schon vor fünf Jahren kein Wort verstanden. Aber damals haben sie wenigstens noch geschimpft. Heute applaudieren sie. Man nennt das »Fortschritt«.
Gestern habe ich meinen alten Freund, den Schauspieler Jarden Podmanitzki, wiedergesehen. Er saß im Kaffeehaus, an einem Tisch ganz für sich allein, und forderte mich nicht auf, bei ihm Platz zu nehmen. Der Grund seiner ungewöhnlichen Zurückhaltung war mir natürlich bekannt: vorige Woche, nach der Premiere von ›Wolkenbruch aus blauem Himmel‹, war ihm in der Presse endlich jenes enthusiastische Lob zuteil geworden, auf das er jahrzehntelang vergebens gewartet hatte.
Podmanitzki gab in diesem außerordentlich modernen Drama einen alternden Bordellbesitzer und Inhaber eines Call-Girl-Rings für männliche Prostituierte. Seine hemmungslos natürliche Darstellungskunst begeisterte in gleicher Weise Publikum und Kritik. Kein Geringerer als I. L. Kunstetter, der Doyen unserer Rezensenten, stellte fest: »Die Überraschung dieses bemerkenswerten Abends war zweifellos Jarden Podmanitzki, von dem eine geradezu diabolische Überzeugungskraft ausging. Sein Alfonso war ein Meisterstück theatralischer Animalität. Jedes Schnaufen, jedes Keuchen, jede seiner bedeutungsschweren, unnachahmlichen Pausen ließ den großen Charakterdarsteller erkennen…«
»Kunstetter hat eher zuwenig als zuviel gesagt, Maestro«, äußerte ich, während ich mich neben ihn setzte. »Ihr Schweigen,
als Sie sich im dritten Akt unter dem schweren Barocktisch verbargen, machte mich erschauern.«
»Das bekomme ich immer wieder zu hören«, stimmte Podmanitzki bereitwillig zu. »Grünstein zum Beispiel hat in seiner Premierenkritik geschrieben, daß die Art, wie ich da unter dem Tisch lag, in ihm spiralenförmige Assoziationen eines verschwörerischen Nihilismus erweckt hat, oder so ähnlich.«
»Ja. Allerdings. Hat das auch der Regisseur zum Ausdruck bringen wollen, wenn ich fragen darf?«
»Natürlich dürfen Sie fragen. Ich habe ihn ja auch gefragt.«
»Und was war seine Antwort?«
»Daß alles schon in der Rolle steht. Also habe ich ihn durch eines von
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