Nicht so laut vor Jericho
Rumänien losgehen.«
»Das ist allerdings eine glatte Rechnung.«
»Gar so glatt ist sie nicht. Eine Kritik hängt von hundert Kleinigkeiten ab. Kunstetter könnte zum Beispiel das Stück loben und die Inszenierung grauenhaft finden.«
»Und dagegen wären Sie machtlos.«
»Keineswegs. Ich halte mich an das bewährte Roulettesystem. Wenn fünfmal hintereinander Schwarz gekommen ist, muß einmal Rot kommen. Verstehen Sie?«
»Nein.«
»Hier, in diesem kleinen Notizbuch, verzeichne ich mit kurzen Schlagworten, was Kunstetter über die Premieren der letzten Monate geschrieben hat. Passen Sie auf. 23. März: ›Ein idiotisches Gefasel‹. 7. April: ›Drei Stunden Langeweile‹. 23. April: ›Eine Beleidigung des Publikums‹. 4. Mai: ›Das darf doch nicht wahr sein‹. 18. Mai: ›Wie lange noch?‹ Fünfmal Schwarz. Nach dem Gesetz der Serie ist jetzt eine gute Kritik fällig. Sonst würde man ihn für alt und verbittert halten. Ich rechne also mindestens auf ›Eine gut ausgewogene Ensembleleistung, die vom Publikum mit freundlichem Beifall bedacht wurde‹. Oder so ähnlich.«
»Das wäre nicht schlecht.«
»Für die nächste Saison habe ich bereits einen Computer bestellt, der diese Berechnungen durchführen wird. Aber vorläufig muß ich das noch selbst machen. Übrigens wird Kunstetter auch die Regie und das Bühnenbild loben.«
»Woher wissen Sie das?«
»Wegen Plotkin.«
»Wie bitte?«
»Ich setze meine Premieren immer so an, daß sie unmittelbar nach einer Premiere in den Kammerspielen herauskommen, bei der Gerschom Plotkin Regie geführt hat. Kunstetter haßt Plotkin. Das ist allgemein bekannt. Plotkin hat ihn einmal in einer Rundfunkdiskussion einen Analphabeten genannt, und seither zerfleischt ihn Kunstetter bei jeder Gelegenheit. Eine vollkommen natürliche Reaktion. Aber es hat zur Folge, daß Plotkin sich mittlerweile an die Verrisse gewöhnt hat. Sie regen ihn nicht mehr auf. Was ihn wirklich trifft, ist etwas anderes: Wenn in der gleichen Zeitung und womöglich auf derselben Seite, wo er verrissen ist, ein anderer Regisseur gelobt wird. Das ist Kunstetters süßeste Rache. Und deshalb folge ich Plotkins Inszenierungen auf dem Fuß. Damit habe ich einen Schwall von Superlativen für meinen Regisseur sicher. Wenn Kunstetter jemanden lobt, muß er zugleich jemand anderem eins auswischen.«
»Und wieso das Bühnenbild?«
»Eine Art Sippenhaftung. Vor ein paar Wochen hat der Vater unserer Bühnenbildnerin, ein bekannter Bildhauer, Kunstetter öffentlich geohrfeigt – wegen irgendeiner abfälligen Bemerkung, die Kunstetter über eine Plastik des Meisters fallen ließ. Kunstetter kann jetzt unmöglich auch noch die Bühnenbilder der Tochter verreißen, wenn er nicht in den Ruf kommen will, die ganze Familie aus persönlichen Gründen zu hassen.«
»Ein Glück für Sie, daß der Papa ihn rechtzeitig geohrfeigt hat!«
»Was heißt da Glück? Ich selbst habe den Zwischenfall arrangiert. Ich ging zum Papa und sagte ihm: ›Wollen Sie, daß Ihr Fräulein Tochter eine gute Kritik von Kunstetter bekommt? Dann hauen Sie ihm ein paar Ohrfeigen herunter!‹ Ja, mein Lieber, es ist nicht leicht, alle Faktoren im Auge zu behalten und zu koordinieren. Nehmen Sie zum Beispiel die Besetzung. Ich habe die Hauptrolle mit Jarden Podmanitzki besetzt, einem mittelmäßigen Schauspieler, dem aber die Namensgleichheit zugute kommt.«
»Welche Namensgleichheit?«
»Der Verleger, der alljährlich Kunstetters gesammelte Theaterkritiken herausbringt, heißt ebenfalls Podmanitzki.«
»Aha. Und er ist mit dem Schauspieler verwandt.«
»Nicht im entferntesten. Aber Kunstetter glaubt, daß die beiden miteinander verwandt sind, und deshalb hat er auch für den Schauspieler nichts als Lob und Preis. Hier, sehen Sie. 7. April: ›Podmanitzkis scharfe Charakterzeichnung hat mich angenehm überrascht.‹ 16. Mai: ›Die große Überraschung des Abends war Podmanitzki.‹ 2. Juni: ›In einer kurzen Szene kam Podmanitzki zu überraschend kräftiger Geltung.‹ Und so weiter. Um ganz sicher zu gehen, habe ich kurz vor der Premiere Podmanitzki auf Wache in das Verlagshaus geschickt, wo er sich im obersten Stockwerk versteckt hielt. Als er Kunstetter kommen sah, stieg er langsam die Treppe hinunter und wußte es so einzurichten, daß er mit ihm knapp vor dem Verlagsbüro zusammenstieß. Das sollte für eine ›überraschend nuancierte Leistung‹ reichen.«
»Sie sorgen aber wirklich für alles.«
»Nicht für alles. Es ist
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