Nicht tot genug 14
sinnlos vor sich hin brodelnder Gase wohl wandern würde, und versuchte, die Zeitzonen im Kopf zu berechnen. In genau diesem Augenblick würde sie in 20 000 km Entfernung als karminroter Ball langsam in Sydney über den Horizont steigen. In Rio de Janeiro wäre es noch hell und brüllend heiß. Wo immer die Sonne auch sein mochte, sie war sich ihrer Macht nicht bewusst. Bei ihm war das anders, er spürte seine Macht.
Die Macht über Leben und Tod.
Perspektive. Alles hing von der Perspektive ab. Was dem einen die Dunkelheit, war dem anderen das Tageslicht. Aber wer kapierte das schon?
Etwa das blöde Mädchen, das nur wenige Meter vor ihm am Strand saß und über die ausgestreckten Körper aufs Wasser glotzte? Auf die schlaffen Segel der Dinghis und Windsurfer. Auf die fernen grauen Flecken der Tanker und Containerschiffe, die reglos wie Spielzeuge am Horizont aufgereiht waren. Auf dämliche Abendschwimmer, die sich in einer Kloake tummelten, die sie für sauberes Meerwasser hielten.
Wusste Sophie Harrington, dass sie das alles zum letzten Mal sehen und riechen würde?
Der ganze verdammte Strand war eine einzige Kloake aus nacktem Fleisch. Körper in schlabbriger Kleidung. Weiß, rot, braun, schwarz. Die Leute stellten sich zur Schau. Manche der Frauen oben ohne, Strandhuren. Er sah eine von ihnen umherwackeln, strähniges Haar bis auf die Schultern, Titten bis zum Bauch, den fetten Hintern in einer Pelle aus neonblauem Nylon, die Oberschenkel von Cellulitis gesprenkelt, in der Hand eine Flasche Bier. Er stellte sich vor, wie sie mit seiner Gasmaske aussehen würde, wie er das Gesicht in ihrem rötlichen Schamhaar vergrub. Wie sie wohl dort unten riechen würde? Nach Austern?
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem blöden Mädchen zu, das jetzt schon geschlagene zwei Stunden am Strand saß. Sie stand jetzt auf, ging vorsichtig über die Kiesel, die Schuhe in der Hand, und zuckte bei jedem Schritt zusammen. Warum zog sie die Schuhe nicht einfach an? Wie konnte man nur so dämlich sein?
Die Frage würde er ihr später stellen, wenn er allein mit ihr im Schlafzimmer war und sie die Gasmaske trug und ihre Stimme undeutlich und gedämpft zu ihm heraufdrang.
Die Antwort war ihm ziemlich egal.
Ihn interessierte nur, was er in sein blaues Kindertagebuch geschrieben hatte, als er zwölf Jahre alt gewesen war. Das Tagebuch war eines der wenigen Dinge, die er aus seiner Kindheit behalten hatte. Er bewahrte es mit anderen Stücken, die ihm viel bedeuteten, in einer kleinen Metallkassette auf. Die Kassette befand sich in einer Garage ganz in der Nähe, die er auf Monatsbasis gemietet hatte. Schon als Kind hatte er gelernt, wie wichtig es war, einen Ort für sich allein zu haben, und sei er noch so klein. Einen Ort, an dem man Dinge aufbewahren konnte. Einen Ort, an dem man einfach sitzen und nachdenken konnte.
Und an solch einem Ort waren ihm mit zwölf Jahren jene Worte in den Sinn gekommen, die er danach in seinem Tagebuch notiert hatte.
Wenn man jemandem richtig wehtun will, braucht man ihn nicht zu töten, das tut nämlich nur kurze Zeit weh. Es ist besser, wenn man etwas tötet, das der andere liebt. Denn das tut ihm für immer weh.
Er wiederholte die Worte wieder und wieder wie ein Mantra, während er Sophie Harrington in sicherer Entfernung folgte. Sie blieb stehen, zog die Schuhe an und ging die Promenade entlang, vorbei an den Geschäften, einer Galerie mit Werken einheimischer Künstler, einem Fischrestaurant, der Steelband, einer Mine aus dem Zweiten Weltkrieg, die an Land gespült und auf einem Sockel aufgestellt worden war, und einem Geschäft für Strandartikel.
Er verfolgte sie durch die Massen sorgloser, sonnenverbrannter Menschen, vorbei an den großen Hotels, und wurde mit jedem Schritt erregter.
Der Wind zupfte an seiner Kapuze und blies sie ihm fast vom Kopf. Er zog sie wieder fest ins Gesicht und holte sein Handy hervor. Ein wichtiger geschäftlicher Anruf.
Er wartete, bis ein Streifenwagen mit heulender Sirene vorbeigefahren war, bevor er die Nummer wählte. Er fragte sich, ob sie zu Fuß nach Hause gehen würde. Im Grunde war es ihm egal. Er wusste ja, wo sie wohnte. Er hatte sogar einen eigenen Schlüssel.
Und alle Zeit der Welt.
Dann plötzlich Panik. Er hatte die Plastiktüte mit der Gasmaske im Café vergessen.
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L INDA BUCKLEY HAT SICH strategisch günstig in einem Ledersessel im eleganten Foyer des Hotel du Vin platziert, dachte Grace, als er mit Glenn Branson das Gebäude
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