Nicht tot genug 14
angestrengt, wie er die Frau ablenken könnte, als ihr Handy klingelte.
Sie holte ein kleines grünes Nokia aus der Tasche, warf einen Blick aufs Display und meldete sich mit bebender Stimme: »Ja, Danica?« Danach sprudelte sie etwas in einer ihm völlig unverständlichen Sprache hervor. Die Diskussion mit der Anruferin namens Danica wurde zunehmend hitziger. Die Frau lief in der Küche auf und ab, sprach lauter und lauter und stampfte in den Flur, wo sich das Gespräch zu einem erbosten Gebrüll steigerte.
Sie ließ ihn nicht länger als eine Minute aus den Augen, aber das reichte völlig aus, um sich den Schlüssel zu schnappen, in das weiche Wachs in der Dose zu drücken, die er in der Handfläche verborgen hielt, und ihn wieder auf den Tisch zu legen.
72
MALLING HOUSE , die Zentrale der Sussex Police, lag fünfzehn Autominuten von Grace’s Büro entfernt. Es war eine zusammengewürfelte Ansammlung von Gebäuden am Stadtrand von Lewes.
Vospers Büro befand sich im Erdgeschoss und besaß einen schönen Blick auf den Rasen, auf dem sich gerade eine Drossel unter dem Rasensprenger tummelte.
Es muss Spaß machen, in einem solchen Raum zu arbeiten, weit weg von den engen, schäbigen Räumen von Sussex House, dachte Grace. Bisweilen überlegte er, ob ihm eine Beförderung und der damit verbundene Machtzuwachs gefallen würden, wusste aber nicht, ob er mit den politischen Machenschaften, die dazu gehörten, klarkäme. Im Augenblick jedoch ging es ihm hauptsächlich darum, möglichst nicht degradiert zu werden.
Alison Vosper konnte an einem Tag überaus nett und freundlich sein und sich am nächsten Tag als schlimmste Feindin erweisen. Für Grace war sie eigentlich immer nur Letzteres gewesen, dachte er, als er nun vor ihren Schreibtisch trat. Er war es gewöhnt, dass sie Besuchern nur selten einen Platz anbot, da sie alle Besprechungen gerne kurz und knapp erledigte.
Daher überraschte es ihn sehr, dass sie, ohne von ihrer Akte aufzublicken, auf einen der beiden Sessel wies, die vor ihrem ausladenden Schreibtisch aus Rosenholz standen.
Wie immer, wenn er das Büro betrat, kam er sich vor wie ein Kind, das zum Schuldirektor berufen wird. Und die Tatsache, dass sie ihn weiterhin ignorierte, machte ihn nur noch nervöser. Er horchte auf das leise Zischen des Rasensprengers, das durchs offene Fenster drang. In einem anderen Büro klingelte ein Handy.
Als Erstes würde sie das Thema München ansprechen, darauf war er zumindest ansatzweise vorbereitet. Doch als sie schließlich aufblickte, gelang ihr sogar ein freundliches Lächeln.
»Ich muss mich entschuldigen, Roy, aber ich habe hier diese verfluchte EU-Direktive über die Standardisierung der Behandlung von Asylbewerbern, die gegen das Gesetz verstoßen haben. Mein Gott, was für ein Krampf! Und dafür verschwendet man unsere Steuergelder.«
»Ganz Ihrer Meinung«, pflichtete Grace ihr bei und wartete misstrauisch auf den Angriff, der doch sicher folgen würde.
Sie hob die Faust. »Sie glauben gar nicht, wie viel Zeit ich mit so etwas verbringe, während ich meine eigentliche Arbeit tun müsste. Allmählich hasse ich die EU. Nur mal so zum Vergleich: Kennen Sie die Rede von Gettysburg?«
»Ja, ich kann sie sogar komplett aufsagen. Ich habe sie mal für ein Schulprojekt auswendig gelernt.«
Sie achtete kaum auf seine Erwiderung, sondern breitete die Hände auf der Tischplatte aus, als suche sie dort Halt. »Aufgrund dieser Rede von Abraham Lincoln wurden die geheiligten Prinzipien der Freiheit und Demokratie in die amerikanische Verfassung aufgenommen. Diese Rede war weniger als 300 Wörter lang. Haben Sie eine Ahnung, wie lang die europäische Direktive über die Größe von Kohlköpfen ist?«
»Nein.«
»65 000 Wörter!«
Er schüttelte grinsend den Kopf.
Sie lächelte zurück und wirkte herzlicher, als er sie je erlebt hatte. Ob sie irgendeine Glückspille geschluckt hatte? Dann wechselte sie abrupt das Thema und fragte noch immer gut gelaunt: »Und, wie war München?«
»Na ja, ein bisschen wie norwegischer Hummer«, sagte er vorsichtig.
Vosper runzelte die Stirn. »Wie bitte? Wieso norwegischer Hummer?«
»Mein persönlicher Ausdruck für etwas, das die Erwartungen nicht erfüllt.«
Sie legte, noch immer stirnrunzelnd, den Kopf zur Seite. »Ich verstehe Sie immer noch nicht.« »Vor einigen Jahren war ich in einem Restaurant in Lancing. Auf der Karte stand norwegischer Hummer. Ich habe ihn bestellt und mich auf einen leckeren großen Hummer
Weitere Kostenlose Bücher