Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Mutter keine ernsteren psychischen Probleme, er hat es nur zuweilen mit dem Magen. Ingrid und Erik schauen manchmal nach der Oma. Als sie achtzig wurde, kam der Vorschlag auf, ein Familienessen zu organisieren. Es wäre das erste gewesen. Aber der Plan ist schnell wieder begraben worden. Man hat sich nichts zu sagen.
Meine Tante Ingrid, die Halbschwester meiner Mutter, habe ich zuletzt gesehen, als ich fünfzehn war. Sie ist geschieden und lebt mit ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn in Hamburg. Als ich klein war, wohnte sie in Berlin und hat weiße und rosa Schokolinsen für mich aus ihren Pulloverärmeln hervorgezaubert.
Am deutlichsten ist mir ein Besuch bei ihr im Gedächtnis geblieben, als ich, damals war ich dreizehn, in Hamburg unbedingt das Musical Cats sehen wollte. Meine Freundin und ich kannten alle Songs daraus auswendig. Außerdem träumten wir beide davon zu tanzen, meine Freundin wollte Schauspielerin werden, ich Ballerina. Einen Tanz von Cats hatten wir in meiner Ballettgruppe einstudiert und aufgeführt. Meine Eltern kratzten das Geld für eine der teuren Eintrittskarten zusammen. Fünfzig D-Mark für die hintersten Reihen im Rang. Ich fuhr allein, für mehr reichte das Geld nicht. Die Aufführung war ein großes Erlebnis. Ich saß allein im Rang. Die zehn Reihen vor mir waren leer. Ich habe jede Sekunde genossen. Und ich hätte nicht im Traum daran gedacht, meinen Platz zu verlassen und mich auf einen der freien Plätze weiter vorne zu setzen.
Zwei Tage später ist mein Vater gekommen, um mich aus Hamburg abzuholen. Er war kein gern gesehener Gast. Seine Haare waren schon damals widerspenstig, er rauchte, und ich spürte, dass meine Tante ihn nicht gerade herzlich fand. Mein Vater ärgerte sich, dass er mich schon morgens um halb acht abholen sollte, obwohl es keine günstige Übernachtungsgelegenheit in der Nähe gab. Ich stand zwischen den beiden und fühlte mich sehr unbehaglich. Ich war das erste Mal allein mit meinem Vater auf Reisen. Er wollte auf dem Rückweg nach Berlin ein paar Abstecher machen inklusive einer Nacht in einem billigen Hotel. Unterwegs fuhren wir mit dem Auto an Stationen aus seinem Leben vorbei, die etwas mit seiner Kindheit, Jugend und seiner Flucht aus der DDR zu tun hatten. Er sah sich und seine Geschichte, ich sah nur einsamen Beton und Gestrüpp.
Meine Mutter und meine Tante Ingrid schreiben sich ab und zu Postkarten, früher waren es Briefe und Päckchen. Ingrid ist die Lieblingsschwester meiner Mutter. Als ich vor zwei Jahren in Hamburg ein Praktikum machte, habe ich meiner Mutter gesagt, sie könne meiner Tante meine Telefonnummer geben. Wenn sie wolle, komme ich sie besuchen. Meine Tante hat nicht angerufen. Es sei alles zu viel, hat sie meiner Mutter später geschrieben. Meine Tante ist körperlich gesund, aber sie hat seit Jahren psychische Probleme. Vor ein paar Jahren hat sie sich bescheinigen lassen, dass sie schwerbehindert ist.
*
Über die Familie meines Vaters ist auch nicht viel zu sagen: Mein Vater hat eine Schwester, Lilli, die ebenfalls in Berlin lebt. Als sie jung war, hat sie Zwillinge bekommen, meine beiden Cousins Markus und Georg, und später eine Tochter, meine Cousine Susanne. Georg arbeitet bei BMW und hat seiner Familie ein Haus in Falkensee hinter der Berliner Stadtgrenze gebaut. Er ist erfolgreich, ein fleißiger Bürger, der ordentlich abrechnet, und einer, der mächtig stolz auf seine eigenen Leistungen ist. Markus hat bei der Bahn gelernt, musste sich aber nach kurzer Arbeitslosigkeit neu orientieren. Susanne ist die Einzige, die eine akademische Karriere absolviert und schon überall gewohnt hat, nur nicht in Berlin. Sie ist auch die Einzige, die sich in den letzten Jahren aktiv um einen Kontakt zu mir bemüht hat. Dafür bin ich dankbar.
Die Mutter meines Vaters, Oma Zimmer, überlebte ihre beiden Ehemänner und wohnte in Berlin. Sie ist hundert geworden. Ich habe sie das letzte Mal 2009, kurz vor ihrem Tod, gesehen – in meinem Kopf ist das Bild einer herrischen Frau mit lichten roten Locken und einem krummen Rücken. Mich hat sie überhaupt nicht wahrgenommen, in ihren Augen gehörte ich nicht wirklich zur Familie. Zu Weihnachten hat sie uns durch meinen Vater einige Jahre lang zwei Lidltüten mit Süßigkeiten geschickt. Aber da mir niemand beigebracht hat, wie man sich bedankt, und ich ohnehin kein Verhältnis zu der fremden Frau hatte, blieben die Tüten irgendwann aus.
Mein Bild von Oma Zimmer ist vor allem geprägt von den
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