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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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Erzählungen meines Vaters. Mein Vater hat sich sein Leben lang an der Beziehung zu seiner Mutter abgearbeitet. Seine Mutter hatte kein Verständnis für seine künstlerischen Interessen und Träume. Ihr Ideal war immer der »Praktikus«, sagt mein Vater. Ich selbst erinnere mich nur an eine Begegnung mit ihr. Da war mein Vater gerade von der See wiedergekommen. Beide schwärmten wir für Moby Dick, den weißen Wal. Mein Papa wusste nicht viel über Kinderspiele, aber er konnte Meerjungfrauen, Fische, Schiffe und Wale zeichnen. Wenn er schon mal da war, bekam ich eigentlich immer seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Aber diesmal, bei Oma Zimmer, war es anders. Sie redete und redete auf ihn ein. Im Fernsehen lief gerade der Spielfilm »Moby Dick« an. Vielleicht wollte ich das meinem Vater sagen oder mich ihm einfach nur ins Gedächtnis rufen. Auf jeden Fall habe ich meine Oma unterbrochen: »Jetzt sei doch mal still, du Schnatterente!« Ich war damals drei Jahre alt, es war nicht böse gemeint. Aber meine Oma war beleidigt, sie hielt mich für schlecht erzogen. Mein Vater fand es lustig, er selbst hätte das nie gewagt.
    Meinen Vater verbindet eine Hassliebe mit seiner Familie. Er hätte mich vor dem ganzen Getratsche und nervigen Gequatsche schützen wollen, sagte er einmal, als ich ihn fragte, warum er mich nie zu den jährlichen Familientreffen mitgenommen hatte. Was wäre denn passiert, wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, mich und meine Mutter einzuladen?
    Jahrelang wohnte mein Cousin mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in der gleichen Straße wie meine Mutter und ich, auch sein Bruder hatte keine zehn Minuten von uns entfernt am Kiesteich eine Wohnung. Getroffen haben wir uns trotzdem nicht – irgendwie hat keiner von uns diese Möglichkeit je in Betracht gezogen. Und eines Tages kroch ein Verdacht in mir hoch: Mein Vater hat vielleicht meine Cousins besucht, ohne bei mir vorbeizusehen, auch wenn ich nur wenige Häuser weiter zu finden war. Oder er ist noch schnell zu ihnen gegangen, wenn er sich früh wieder von mir verabschiedete – er müsse »noch weg« –, obwohl er, wie oft, Stunden zu spät gekommen war. Er bestreitet das heute. Er habe mich immer besucht, wenn er in der Nähe war.
    Ich bin in der Familie Zimmer ein verdrängtes Kind. Keiner nimmt meinen Vater in seiner Vaterrolle ernst. In seiner Jugend galt er noch als der coole Onkel, der Hallodri, danach aber bald als Loser, als einer mit psychischen Problemen und abgebrochenen Ausbildungen. Er war der, der nicht weiterkam, während die anderen beiden erwachsen wurden und Karriere machten. Heute ist mein Vater das schwarze Schaf der Familie, das sich selbst ab und zu bei den anderen einlädt. Zumindest bekomme ich aus seinen Erzählungen diesen Eindruck.
    Wie das sei, seine Tochter zu sein, hat mich einer meiner Cousins auf unserem ersten Treffen gefragt. Damals war ich neunzehn, kam gerade aus Schweden zurück, wo ich mein Abitur gemacht hatte. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
    Wenn wir uns heute zufällig bei meinem Vater begegnen, gehen wir respektvoll miteinander um. Aber solche Begegnungen gibt es nicht oft.

KAPITEL DREIZEHN
    Wartenummer 072
    In dem mein Vater versucht, Kurierdienstfahrer zu werden. Und ein kompliziertes System von Vermittlungs- und Kommunikationsfehlern zu keinem Ergebnis führt.
    Den folgenden Auszug aus seinem Tagebuch hat mein Vater mit »Kleine Odyssee durch das Jobcenter-Wunderland« überschrieben. Er war von einer Sachbearbeiterin gebeten worden, einen »Erfahrungsbericht über die Jobvermittlung durch die Träger-Vereinigungen« zu schreiben. Ob die Form seiner Beschreibung für einen Bericht angemessen ist, sei dahingestellt. Dennoch hat er genau dokumentiert, was sich zugetragen hat.
    In seinem Text sind typische Merkmale der Gattung »Jobcenter-Erzählung« wiederzufinden. Zum einen ist das die immer wiederkehrende Charakterisierung der Sachbearbeiter. Ob jemand freundlich, ruhig oder herablassend und unaufmerksam ist, scheint für die »Kunden« von großer Bedeutung zu sein. Ob der Sachbearbeiter zuhört, entscheidet darüber, wie offen sie sich trauen, über ihre Wünsche und Probleme zu reden.
    Zweitens treten immer wieder in der Struktur des Betreuungs- und Vermittlungsauftrags Unstimmigkeiten und Konflikte auf. Diese werden auch in der Geschichte meines Vaters sichtbar. Wie bei meinen Eltern besteht bei vielen Jobcenter-Kunden das Problem, dass diese ihre Fähigkeiten, sind sie nicht

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