Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Ein Absperrungsband zeigt an, wie die Schlange sich zu bewegen hat. Es gibt nur wenige Stühle. Und die reichen selbst in einem solchen Bezirk oft nicht aus – weder für die vielen Alten, die kaum so lange stehen können, nicht für Schwangere und auch nicht für Mütter, die noch ein Kind auf dem Arm haben. Aber zum Glück gehen die Wartenden hier freundlich miteinander um. Ein Platz wird freigemacht, damit eine Mutter sich setzen kann.
Nach einer knappen Stunde bin ich dran. Am Schreibtisch sitzt einer, der mit seinen kurzgeschorenen blonden Haaren aussieht, als sei er gerade neunzehn geworden. Ich habe den Pass meines Vaters dabei, eine von ihm erteilte Vollmacht und die Stromrechnung. Ich hätte die Rechnung auch einfach in den Briefkasten werfen können, aber ich möchte eine Empfangsbestätigung. Und ich muss melden, dass mein Vater zurzeit im Krankenhaus liegt und auf unbestimmte Zeit nicht persönlich erscheinen kann.
»Haben Sie eine notariell ausgestellte Vollmacht?«, blökt mich der Blonde an, sonst könne er nichts für mich tun. Ich zeige ihm, was ich habe. Er sagt, mein Vater müsse selbst kommen oder eine notarielle Vollmacht vorbeibringen. Ich erkläre ihm noch einmal, inzwischen schon ungeduldig, dass ich doch genau deswegen hier sei, weil mein Vater nicht kommen kann . Mein Ton ist barsch und genervt. Ich stelle mir vor, dass ich sehr reich bin, vielleicht ein Gossip-Girl von der Upper East Side in New York, um die nötige Autorität aufzubringen – höflich, aber bestimmt und mit einer Prise Herablassung. Gleichzeitig mobilisiere ich in mir alle Ghetto-Energie, die ich auftreiben kann. Ich mach hier Gangster-Rap, wenn es sein muss, ohne Empfangsbestätigung werde ich diesen Ort nicht verlassen. Er spürt, dass ich entschlossen bin, richtig Stress zu machen, und rechnet sich aus, dass es bei meinem Anliegen nicht lohnt, sich auf einen Konflikt einzulassen. Am Ende siege ich, er bequemt sich, etwas in den Computer einzutippen, und stempelt mir mürrisch die Bestätigung ab. Ich schwöre, andernfalls hätte ich seinen Schreibtisch umgeworfen.
So einer, stelle ich mir vor, hat vermutlich meine Freundin Ewa beleidigt. So einer sagt gern NEIN, bevor er sich auch nur angehört hat, worum es geht. Jedes Mal, wenn ich höre, dass jemand falsche oder halbe Informationen beim Jobcenter bekommen hat, zu früh weggeschickt oder nicht richtig aufgeklärt wurde, steht er mir vor Augen. Und dann denke ich an die Worte meiner Mutter: »Ich glaube, die Sachbearbeiter beim Sozialamt fühlen sich selbst diskriminiert und projizieren noch Ungutes auf manche andere«, schrieb sie mir, als ich gerade mit meinem Abitur beschäftigt war. »Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du niemals mehr etwas damit zu tun haben musst.«
KAPITEL ZWÖLF
Gurkensalat oder Die fremde Familie
In dem meine Oma beleidigt ist, mein Vater als »Loser« gilt und ich darüber nachdenke, warum die Familien meiner Eltern in meinem Leben vor allem abwesend sind.
Einmal sind meine Mutter und ich richtig in den Urlaub gefahren. Wir waren am Gardasee und in Venedig. Meine Mutter hatte damals einen Freund mit einem VW-Käfer, rund und weiß, wie die Kaugummikugeln, die mir dieser Freund schenkte. Leider kann ich mich daran kaum noch erinnern. Ich war noch keine zwei Jahre alt, und in den Tiefen meines Gedächtnisses stoße ich nur noch auf flirrende Hitze und ein verschwommenes Blau. Ganz deutlich aber ist dort ein übergroßes aufblasbares geranienrotes Gummitier festgehalten.
Dafür gibt es Beweise im Familienalbum. Das Bild zeigt mich allerdings nicht am Sandstrand, sondern auf dem braunen Teppich in unserem Wohnzimmer. Das rote Tier war so groß, dass ich mich auf seinen Rücken setzen konnte. Es sah ganz anders aus als die Enten, Haifische und Luftmatratzen in den Schwimmbädern. Ich habe jeden Tag mit ihm gespielt. Doch im Wohnzimmer fühlte sich mein neuer Freund gar nicht wohl – nach kurzer Zeit ist er geplatzt.
Später waren meine Mutter und ich noch zweimal in Borsum, meine Oma besuchen. Daran kann ich mich noch vage erinnern. Einmal kam Oma für einige Tage nach Berlin. Wir haben eine Dampferfahrt gemacht und sie hat uns bei IKEA ein Kaffeeservice gekauft, cremefarben mit großen orangefarbenen Blumen drauf. Das fand ich schön. Meine Oma, die Ostfriesin ist, würde aus diesen Tassen nie Tee trinken, meiner Mutter und mir ist es egal, ob wir Tee aus Kaffeetassen trinken. Es war nun einmal das Service, das mir am besten
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