Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
uns auch. Andersherum hätten wir uns gar nichts erlauben können. Leichtfertig aber war meine Mutter im Umgang mit Geld nie. Sie hatte unsere Ausgaben, die nächsten Einnahmen und die Dauer des »Absparens« immer unter Kontrolle. Nicht mehr als 20 Mark für den Wocheneinkauf in der letzen Woche, erst musste wieder Geld aufs Konto kommen.
Eigentlich ist man schon im Alltag wegen der Essenseinkäufe, der vielen Kleinigkeiten für die Schule, Glühbirnen oder einer löchrigen Schuhsohle häufiger ein bisschen im Minus. Wie eine Binnenmeerwelle schwappt der Kontostand immer etwas über und etwas unter die Nullgrenze. Das erklärt auch, warum es nicht möglich ist zu sparen. Es geht einfach nicht, weil sich immer schon für den nächsten Monat eine Warteschlange an Dringlichem aufgebaut hat: neue Unterwäsche, Sportsachen oder ein Medikament müssen angeschafft oder der zu klein gewordene Wintermantel ersetzt werden. Es gibt immer etwas.
Will man eine größere Anschaffung tätigen, etwa ein richtiges Bettgestell statt der Matratze auf dem Boden oder Auslegeware für die hässlichen grauen Kacheln im Flur, muss man eine gewisse Summe als Vorschuss einsetzen, die man danach durch Absparen wieder auszubügeln versucht. Das dauert meist ein bis zwei Monate länger als berechnet, weil inzwischen schon wieder eine unvorhergesehene Ausgabe fällig wurde – eine Nachzahlung zum Beispiel auf die Stromrechnung oder eine Telefonrechnung, die die strenge Vorgabe gesprengt hat. Es ist fast unmöglich, diesen kleinen ökonomischen Kreislauf zu durchbrechen und im Voraus zu sparen. Unvorhersehbarkeiten lassen sich durch nichts anderes ausgleichen als durch das Absparen dort, wo sich am flexibelsten kalkulieren lässt: am Essen und an der Kleidung.
Für die ständige Entbehrung braucht es aber irgendwann eine Belohnung. Und meine Mutter hatte etwas, mit dem sie sich belohnen konnte: Bücher und Musik. Eine Zeitlang kam der Katalog von Zweitausendundeins zu uns ins Haus. In unserer Nähe gab es keinen Plattenladen, keinen richtigen Buchladen, in dem man die anspruchsvolle Literatur, die sich meine Mutter bisweilen aus dem Radio notierte, hätte finden können. Im Zentrum von Spandau gab es nur Karstadt. Die Bibliothek, die meine Mutter regelmäßig nutzte, hinkte mit Neuerscheinungen recht weit hinterher. Eine Fahrt zur Amerika-Gedenkbibliothek am Halleschen Tor, zu der wir, als wir noch in Kreuzberg wohnten, zu Fuß laufen konnten, war von Spandau aus mit Unkosten verbunden. Schon einige Fahrscheine konnten das Monatsbudget arg strapazieren. Als ich klein war, ist meine Mutter manchmal schwarzgefahren, aber der nervliche Stress war ihr doch zu groß. Also läuft man, was laufbar ist; die 2,6 Kilometer von unserer Wohnung zur Altstadt Spandau zum Beispiel. Wenn man einen Fahrschein kaufte, musste es sich schon richtig lohnen.
Irgendwann hat meine Mutter selbst den Zweitausendeins-Katalog wieder abbestellt. Auch wenn es Spaß machte, darin zu blättern, so war die Versuchung doch zu groß. Also schloss sie lieber alles aus, was zu unvernünftigen Kaufentscheidungen verleiten oder Begehrlichkeiten wecken konnte.
Vernunft hieß auch, dass Friseurbesuche überflüssig waren. Meine Mutter hat mir jahrelang die Haare geschnitten. Aber wenn man einmal entdeckt hat, welchen Unterschied ein ordentlicher Haarschnitt für das Selbstwertgefühl macht, will man auf den Friseur nicht mehr verzichten. Meine Mutter schneidet sich die Haare immer noch selbst.
Wenn wir mal ins Kino gingen, dann nur für einen besonderen Film. Ab und zu hat meine Mutter dort dann doch eine Cola oder eine Tüte Popcorn für uns gekauft. Das war pure Unvernunft, weil ihr die drei Mark am nächsten Tag fehlten. Aber wir haben diese Unvernunft gemeinsam genossen. Öfter aber ging ich allein oder mit meinen Freundinnen ins Kino, das war finanziell gesehen vernünftiger. Ich kann mich nur an drei Filme erinnern, die ich zusammen mit meiner Mutter besucht habe: »Taran und der Zauberkessel«, 1985 im Marmorhaus am Zoo, das es schon lange nicht mehr gibt, »Das Leben ist schön« von Roberto Benigni und »Schindlers Liste«.
Für uns beide das größte Ereignis war ein Besuch im russischen Staatszirkus. Wir hatten eine Dokumentation über den Clown Oleg Konstantinowitsch Popow gesehen und ihn sofort zu einem unserer Helden ernannt. Ein Russe, wie Dostojewski, ein Clown, ein melancholischer Künstler. Kurz darauf kam er nach Berlin. Wir waren richtig aufgeregt. Meine
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