Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
sich mit Kritik zurückgehalten. Angst hemmt letztendlich die Möglichkeiten der Verbesserung. Dazu müsste eine Vertrauensbasis zwischen Lehrenden und Lernenden entstehen können. Doch die Lehrenden sind letztendlich Repräsentanten des Jobcenters.
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Meine Mutter bringt oft kleine Tiergeschichten von ihren Spaziergängen mit nach Hause. Ein Vogel, der sich beim Lesen auf ihren Arm gesetzt hat, eine Eidechse, der sie sich vorsichtig nähert, um sie nicht zu erschrecken. Einen Tag hat sie so eine Begegnung in ihrem grünen Notizheft aufgeschrieben. Eine Parabel: »Ein kleiner Wurm liegt auf dem Straßenpflaster, er regt sich, seine eine Hälfte ist sehr erschöpft. Ich nehme ihn mit Hilfe eines weichen Stockes auf und trage ihn durch die Luft. Da habe ich Gartenerde erreicht und lasse ihn darauf nieder. Er, ein erschreckter Halbkreis, beginnt eine Spitze zu regen, dann durchläuft wohlige Entspannung seine gesamte Peristaltik. Ich freue mich.«
Ob der Wurm wohl von selbst zur Erde hätte kriechen können, wenn meine Mutter ihm ein Aktivierungsprogramm vorgeschlagen und einen Eingliederungsvertrag mit ihm vereinbart hätte? Hätte er nicht zugestimmt, hätte man davon ausgehen müssen, dass ihm nichts an einer Hilfestellung liegt.
KAPITEL FÜNFZEHN
Absparen und vernünftig sein
In dem es um das Privileg eines Dispokredits geht, das Vokabular des Sparens und um Sehnsuchtsgegenstände, deren Kauf keinen Aufschub duldet.
In einer Stunde hatten die zwei Möbelpacker unsere Wohnung ausgeräumt und verpackt. Sie waren selbst erstaunt, wie wenig wir hatten. Es war 1986, ich wurde gerade sieben Jahre alt und sollte nach dem Umzug eingeschult werden. Meine Mutter nutzte die Gelegenheit, einige der alten schweren Möbel meines Vaters loszuwerden. Obwohl ich dagegen war. Übrig blieben die zwei unbehandelten Holzregale, die Möbel aus meinem Zimmer, ein paar Sachen von meiner Mutter und unsere Kleidung.
Für das neue Wohnzimmer hatte meine Mutter einen Teppich beantragt. Das dunkelbraune Wollgeflecht, das uns von da an begleitete, war eine große Anschaffung. »Es gab etwas Geld für die Auslegware«, erinnert sich meine Mutter. »Ich suchte eine Wollmischung im Stück aus und ließ sie umsäumen. Dafür hatte ich mir selbst etwas Geld abgespart.« In solchen Fällen heißt es nicht »sparen«, sondern »absparen«. Und wo man es sich abspart, ist auch klar: vom Munde. Eine andere Variante ist, sich irgendwo etwas »abzuknapsen« oder »abzuzweigen«.
Nachdem meine Mutter die Möbel von meinem Vater aussortiert hatte und wir einen gigantischen Holzschrank aus irgendeinem Fundus für Sozialhilfeempfänger in unsere Wohnung bekamen, hat sie den Rest unserer Möbel bei IKEA zusammengestellt. Heute hätte ich wahrscheinlich alles über eBay besorgt, aber damals gab es kein Internet und Kleinanzeigen zu erschwinglichen Gegenständen nur in dem Blättchen »Zweite Hand«, das aber kostete Geld. Für meine Mutter war IKEA übersichtlich und erfüllte ihr Bedürfnis nach etwas Neuem und Sauberem.
Wochenlang blätterten wir im Katalog, maßen ab, überlegten, wogen ab, was wohin könnte, studierten Angebote, stellten immer wieder um, probierten einen anderen Esstisch aus und versuchten, durch geschickte Kombinationen die Kosten doch noch zu senken. Alle mühsam getroffenen Entscheidungen wurden dann in der Warenhalle vor Ort noch einmal überprüft.
Wie andere IKEA-Kunden auch, fanden wir in der Halle immer noch Gegenstände, Kerzen, Servietten, einen Topf, die nicht auf dem Plan standen, aber günstig waren, jedenfalls günstiger, wenn wir sie jetzt mitnahmen, als sie später woanders zu kaufen. Hier hieß »Vernunft« vordenken und dadurch sparen. Natürlich fiel dann die Endsumme höher aus als ursprünglich eingeplant. Da konnten uns schon wenige Euro ins Schwitzen bringen. Nach den Einkäufen war vor allem meine Mutter völlig erschöpft. Die Anstrengung, die sie das kostet, lässt sich an ihrer Wortwahl ablesen. »Strapaze« steht da für einen IKEA-Besuch, der für andere als Synonym für eine lustvolle Einkaufsgelegenheit mit schwedischen Fleischbällchen und Prinzessinnentorte in der Kantine steht. Von »Unglück« spricht sie bei einem kleinen Fehlkauf: eine Latte, die nicht in das Taxi meines Vaters passt; »Glück« hingegen ist, wenn das Geld an der Kasse reicht.
»Ich bewundere sie, wie sie das immer schafft, solche Einkäufe hinzukriegen«, sagte selbst mein Vater. Er fand immer etwas zu meckern, wenn er uns mit
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