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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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Mutter kaufte uns Karten. Und am Tag der Vorstellung hatte sie Fieber. Aber wir sind trotzdem gegangen und waren von der Zauberkunst des traurigen Clowns tief beeindruckt. Die Eintrittskarten hat meine Mutter lange in der Metalldose aufbewahrt, in der auch unsere Familienfotos und ein paar Postkarten von meiner Tante gestapelt sind, heute kleben sie in einem ihrer Fotoalben.
    Für mich waren solche Ausflüge der Anfang von etwas, das in meinem Leben noch öfter auftauchen konnte. Für meine Mutter waren die Ausflüge Höhepunkte, die bis heute in ihrem Alltag selten sind und nie zu einer Normalität werden konnten.
    *
    Qualitätsansprüche und Hartz IV beim Einkauf zur Deckung zu bringen ist eine Kunst für sich. Jedes Experiment ist ein Risiko. Vor allem bei Kleidungsstücken. Denn die kosten mehr als eine Tüte Popcorn. Möglicherweise stellt sich erst zu Hause heraus, dass sich etwas nicht gut trägt. Wenn sich so eine Investition als Fehlentscheidung erweist, kommt das einem persönlichen Versagen gleich. Man hatte schließlich vorher Zeit genug, alle Vor- und Nachteile abzuwägen. Und nicht immer kann man den Kauf rückgängig machen, wenn sich die persönlich empfundenen Mängel erst nach der ersten Wäsche oder beim Tragen herausstellen.
    Beim Klamottenkaufen gerät meine Mutter deshalb auch in helle Aufregung, wenn sie etwas Gutes gefunden hat. Dann ruft sie mich an. »Undin’« sagt sie dann mit dieser hohen Stimme in atemlosem Staccato, »ich hab was ganz Tolles gefunden! Perfekt für den Winter, wenn es anfängt zu ziehen und mir immer so kalt ist. 90 Prozent Baumwolle und 10 Prozent Viskose. Und es war heruntergesetzt. Und das Futter ist ganz weich. Und ich kann es wunderbar tragen. Da unten kann ich es noch etwas umnähen und es drückt mich nicht am Hals …« Ich unterbreche sie dann irgendwann ungeduldig: »Ja, Mama, und was hast du nun gekauft?« Sie nennt die Materialzusammensetzung immer zuerst, dann erzählt sie etwas über die Verarbeitung und den Preis, danach, welche Beschwerlichkeiten sich damit lindern lassen, eventuell hebt sie noch die Farbe hervor – würde ich nicht nachfragen, dann bliebe mir verborgen, was sie eigentlich erstanden hat. Und da ich weiß, dass meine Mutter nur Naturfasern kauft, interessieren mich Zusammensetzung und Preis in den seltensten Fällen. Sie hat für uns immer schon Kleidung aus Naturfasern gekauft. Für ein Cashmere-Unterhemd würde sie ihren Dispo überziehen, aber nie für etwas, das einfach nur modisch ist. Meine Mutter interessiert sich eh nicht für Mode.
    Am langwierigsten ist der Kauf von Schuhen für sie. Meine Mutter trägt nur gute Schuhe, das Fußbett, das Material, die Sohle müssen sie überzeugen. Die Schuhe müssen Jahre halten und dürfen ihre empfindlichen Füße nicht aufschürfen. Meine Mutter geht schließlich fast jeden Tag zwei Stunden spazieren. Solche Schuhe aufzutreiben ist schon nicht ganz einfach. Sie bezahlen zu können noch schwieriger. Dennoch: Wenn alle Bedingungen stimmen, ist es »vernünftig« investiertes Geld.
    Aber »vernünftig« zu sein bringt manchmal komplizierte Kalkulationen mit sich. War es 1999 vernünftig von meiner Mutter, die noch als MAE-Kraft arbeitete und auf dem ersten Arbeitsmarkt nur Absagen kassierte, einen Computer zu kaufen? Ich machte damals gerade in Schweden Abitur. Meine Mutter hatte in einer Weiterbildung gelernt, was das Internet ist und wie man mit Office-Programmen umgeht. Sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, vielleicht doch noch einen Bürojob zu finden.
    Und sie hatte herausgefunden, dass sie die naiven Zeichnungen, die sie gern mit Ölkreiden auf Papier malte, auch auf dem Computer produzieren und dann mit ihren Gedichten zusammenfügen konnte.
    Ein Computer ist eine große Investition. Sie hat wochenlang Preise verglichen und sich informiert. Dann kaufte sie einen Computer auf Raten und sparte an der Installation. Sie schrieb mir jede Woche nach Schweden, wie sie an vier Wochenenden mit der Anleitung in der Hand die graue Kiste aufgebaut und installiert hat. Damals musste man erst das Betriebssystem aufspielen, dann die einzelnen Treiber für die Komponenten, CD-ROM-Player, Monitor und danach die Programme. Sie hat es ohne Hilfe geschafft. Als ich den Computer einige Monate später, zu Beginn meines Studiums, von ihr übernommen habe, bewunderten meine Informatikfreunde, wie ordentlich und gepflegt dieser Computer war. Wer weiß, was ich gemacht hätte, wenn sie keinen gekauft

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