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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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hätte.
    Ich habe nie verstanden, warum meine Mutter nirgendwo eine Stelle bekommen hat. Warum man nicht alles getan hat, um sie weiterzuvermitteln. Sie ist nicht die schnellste, wenn es um Neues geht, sie ist auch mal überfordert. Aber sie macht alles mit einer Ausdauer und Gründlichkeit, die ich bei mir selbst vergeblich suche. Sie funktioniert nicht einfach, sie will das, was sie macht, auch verstehen. Vielleicht liegt da ihr Vermittlungsproblem – wer verstehen will, stellt Fragen und denkt nach. Und diese Art von »gesundem Menschenverstand« ist bei Harz-IVlern keine besonders geschätzte Eigenschaft.

KAPITEL SECHZEHN
    Von der anstrengenden Kunst, sich zu assimilieren
    In dem ich mit sechzehn Jahren zu Hause ausziehe und mir Schule zum ersten Mal Spaß macht, obwohl ich eine »Außenseiterin« bleibe.
    Als ich sechzehn war, packte ich zwei Koffer und stieg in einen angerosteten Kleinbus, mit dem mich eine Bekannte und die Leiterin des schwedischen Wohnheimes, in dem ich die nächsten Jahre verbringen sollte, in Berlin abholten. Meine Mutter schwieg stoisch. Es gab nichts, was sie hätte sagen können, um mich umzustimmen. Die Privatschule, auf die ich gehen würde, gehörte zu einer Freikirche; zum Jahreswechsel war ich bereits mit der Familie meiner Sandkastenfreunde dort gewesen, hatte die kleinen Schwedenhäuschen gesehen, in denen sich die Unterrichtsräume befanden.
    Meine Vorfreude auf meine Zeit in Schweden war riesengroß. Ich wollte alles lernen, was man mir beibringen würde. Meine Entscheidung, fortzugehen, hatte nichts mit Mut zu tun, für den mich später viele so bewunderten. Es war eher der Versuch, Ängste zu überwinden, die mich zu Hause täglich einholten. Ich wollte raus, weg. Es konnte nur besser werden. Ich hatte das Gefühl, nichts zu verlieren, und war entschlossen, diese außergewöhnliche Chance, die sich mir bot, zusammen mit Menschen zu lernen, die wie ich dachten und mit mir den christlichen Glauben teilten, auch zu nutzen. In der Schule hatte mich mein Glaubensbekenntnis zur Außenseiterin gemacht, nun würde es der Link werden, der mich in eine Gemeinschaft einband, zu der ich endlich nicht nur am Wochenende gehörte.
    *
    Meine Bleibe für die nächsten drei Jahre lag mitten im Wald in Südschweden. »Kolleberga« war ein Komplex aus vier Häusern: das größte war das flache weiße Steinhaus in der Mitte, das zum Wohnheim wurde. Gegenüber lag der Holzschuppen mit den beiden Öfen, die im Winter alle Wohnhäuser beheizten. Wir Schüler wurden in Schichten eingeteilt, um den Ofen zu überwachen und Holz nachzulegen. Ich habe das gern gemacht. Neben dem Ofen war es wärmer als im Haus, und etwa zehn Kätzchen tollten zwischen den Holzspänen herum und kletterten meine Hosenbeine hoch. Ich hatte mir früher lange eine kleine Katze gewünscht. Einmal war meine Mutter mit mir Katzenjunge angucken gegangen, in dem Wissen, dass sie keins davon mit nach Hause nehmen würde. Es war schwer gewesen, damals mit leeren Händen wieder gehen zu müssen.
    In Schweden erlebte ich nun Landromantik wie in Astrid Lindgrens Kinderbüchern. Im ersten Haus rechts von uns wohnte eine Familie mit einer rothaarigen frechen Tochter, die auch zur Gemeinde gehörten, im zweiten eine Pastorenfamilie und im dritten lebten eine Grundschullehrerin, eine Künstlerin, die sich als persönliche Assistentin von Multiple-Sklerose-Patienten durchschlug, und eine modebewusste Kurzhaarige, die Farbberatung anbot und immer, selbst mitten im Wald, von einer schweren süßlichen Parfümwolke umgeben war. Zwei der drei Frauen arbeiteten in der Schule als Lehrerinnen.
    Die letzten Wochen der Sommerferien pflückte ich Johannisbeeren, bis ich nur noch Johannisbeeren sah, wenn ich die Augen schloss. Und ich lernte Schwedisch. Die Pastorentochter las unermüdlich mit mir Texte und korrigierte meine Aussprache. Daneben verrichtete ich viel Hausarbeit, räumte den Keller aus, schälte Kartoffeln, putzte, kochte und buk. Schließlich durfte ich umsonst wohnen und musste jede Gelegenheit nutzen, mich nützlich zu machen – ein gelegentlicher Kommentar der Leiterin des Wohnheims sorgte schon dafür, dass mein eigenes schlechtes Gewissen nie Ruhe gab. Essen bekamen wir meist von Firmen, die abgelaufene oder kurz vor dem Ablaufdatum stehende Lebensmittel billig an das Heim verkauften. Mal gab es dementsprechend viel Marmelade, ein anderes Mal Unmengen an Toast oder Konserven. Das Notwendigste war immer vorhanden. Mittagessen

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