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Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)

Titel: Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Undine Zimmer
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weltfremden Vorschlag.
    Für das Jobcenter gilt das ganz besonders, selbst dann, wenn eine Service-Hotline eingerichtet wurde. Natürlich kann man zum Telefon greifen, und wenn man Glück hat, kommt man sogar durch. Aber was man dann von dem »Service-Center« am anderen Ende der Leitung erfahren kann, lässt sich in der Regel schon im Internet nachlesen. Es sind standardisierte Auskünfte, die für spezielle Nachfragen unergiebig sind. Umgekehrt aber gilt: Verpasst man den Anruf eines Sachbearbeiters um einige Sekunden, kann man nicht zurückrufen. Man landet nicht bei ihm, sondern wiederum im Service-Center. Und die dortigen Mitarbeiterinnen können nicht durchstellen, sie können einen nur vertrösten. Hat man richtig, richtig Glück, hat der Sachbearbeiter einen Vermerk im System hinterlassen – vermutlich steht darin, dass er einen gerade angerufen und nicht erreicht hat. Bescheid folgt.
    Die Struktur von Macht und Ohnmacht zeigt sich auch, wenn dem Jobcenter in einer Berechnung ein Fehler unterläuft. Dass das keine Seltenheit ist, davon zeugt die Zahl der Klagen zu unberechtigten Sanktionen und fehlerhaften Bescheiden. Im vergangenen Jahr sind 40000 Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide am Sozialgericht Berlin eingegangen, informiert das Internetportal gegen-hartz.de. In über fünfzig Prozent der Fälle sei das Jobcenter im Unrecht. Aber, so zitiert die Seite die Präsidentin des Sozialgerichts, für die Jobcenter seien die gerichtlichen Verfahren kostenlos.
    Als mein Vater im Krankenhaus lag, wurde ihm pro forma eine Pauschale abgezogen. Er habe dort schließlich Vollversorgung, lautete die Begründung des Jobcenters mir gegenüber, und brauche deshalb nicht den vollen Satz. Mir leuchtete das nicht ein. Schließlich hatte mein Vater auch im Krankenhaus Kosten, die hierbei gar nicht berücksichtigt wurden. Doch dieses Verfahren sei Routine, man könne das abgezogene Geld später allerdings »zurückklagen«, erfuhr ich von der Sozialschwester in der Reha-Klinik meines Vaters, die sich auskannte. Ich hatte damals eigentlich keine Nerven zum Klagen und ohne die Schwester hätte ich von einer solchen Möglichkeit gar nicht gewusst. Diese Praxis, dem Kunden im Zweifelsfalle erst einmal einen Betrag abzuziehen, spart dem Jobcenter Geld. In zahlreichen Fällen vermutlich sogar nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft, denn viele seiner Kunden werden von der Klagemöglichkeit gar nicht wissen oder nicht in der Verfassung sein, das durchzustehen.
    Das sind nicht die einzigen Geschichten zum Thema Macht und Ohnmacht zwischen dem Jobcenter und seiner Kundschaft. Besonders unverständlich sind mir jene Regulierungen des Jobcenters, die die Eigeninitiative ihrer Kunden ausbremsen. Unbezahlte oder gering vergütete Vollzeitpraktika, um seine Berufsfähigkeit zu erweitern? Schwierig. Längerfristige ehrenamtliche Arbeit in Vollzeit? Schwierig. Akademisch ausgebildete Berufsanfänger werden darauf verpflichtet, sich auf eine Senior-Managementstelle zu bewerben, weil keine passenden Jobangebote für Einsteiger im Pool vorhanden sind – auch wenn eine solche Bewerbung kaum Aussicht auf Erfolg haben dürfte. Nur wenn die Beschäftigungstherapie Ein-Euro-Job oder MAE heißt, selbst wenn sie sinnloser ist als alles, was man sich selbst ausdenken könnte, ist das gestattet. Einige Kunden schaffen es trotz all dieser Hindernisse auf den ersten Arbeitsmarkt. Andere nicht. Auf viel Ermutigung dürfen sie dabei nicht hoffen.
    Als meine Mutter eine Weiterbildung zur medizinischen Schreibkraft absolvierte, um deren Genehmigung sie sich selbst bei der Agentur für Arbeit sehr lange und hartnäckig bemüht hatte, stieß sie auf Lehrer, die wenig motivierend mit ihren Schülern umgingen. An eine wirkliche Jobchance ihrer Schüler glaubten die ohnehin nicht. »Wenn Sie nicht schnell genug sind, dann können Sie das eben nicht. Das ist ein Crashkurs«, höhnte eine Lehrerin. »Das werden Sie eh nicht brauchen, wenn Sie je einen Job kriegen sollten«, reagierte ein anderer Lehrer, als es Nachfragen zu dem vorgestellten Kalkulationsprogramm gab. Aber auf den Evaluationsbögen, die am Ende der Maßnahme verteilt wurden, hat jeder der Schüler den Lehrern die bestmögliche Note gegeben. Weil keiner Stress wollte. Weil jeder froh war, die Ausbildung überhaupt machen zu dürfen. Weil alle Angst hatten, dass eine negative Äußerung doch Auswirkungen auf die »Zusammenarbeit« und schließlich auf die Noten haben könnte. Auch meine Mutter hat

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