Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
erhielten wir an den Wochentagen in der Schule, wer über die Hauptmahlzeiten morgens und abends hinaus etwas brauchte, konnte es sich im Laden der nächsten Kleinstadt »Ljungbyhed« besorgen. Sie war 3,5 Kilometer entfernt, ließ sich aber mit dem Fahrrad gut erreichen. Und dort stand sogar ein kleines Kino, in dem jede Woche ein Film gespielt wurde.
In den Zimmern wohnten wir zu zweit. Zwei Zimmer teilten sich eine Toilette, Duschen, für Jungs und Mädels getrennt, befanden sich wie in der Jugendherberge auf dem Flur. In den Ferien, wenn die meisten Schüler zu Hause waren, versuchte die Leiterin, die Zimmer als »Bed and Breakfast« zu vermieten.
In meiner Klasse waren wir zu Beginn des Schuljahres zehn Schüler. Zwei waren schon älter als fünfunddreißig Jahre, machten ihr Abitur nach und gingen neben der Schule handwerklichen Berufen nach. Zwei waren Pastorensöhne. Die anderen kamen aus ganz Schweden. Einige Wochen nach Schulbeginn kam Oksana, ein Mädchen aus der Ukraine, in meine Klasse. Ihr Freund, ein Schwede und wesentlich älter als sie, hatte sie ins Land geholt.
Die ersten Wochen konnte ich dem Unterricht überhaupt nicht folgen. Ich bekam Nachhilfe von einer Deutschen, die ebenfalls in der Gemeinde tätig war. Barbara stammte aus der Pfalz, ihre beiden Söhne – einer von ihnen ging in meine Klasse – hatten die ersten zehn Lebensjahre in Deutschland verbracht und waren dann mit den Eltern nach Schweden gezogen. Nun war Barbara Pastorenfrau und für die Gemeinde tätig. Ihre Schwiegermutter, »Oma Persson«, wurde meine offizielle Betreuerin. Auf dem Papier wohnte ich bei ihr, sie fuhr mit mir zur Ausländerbehörde wegen der Aufenthaltsgenehmigung oder zum Arzt. Diese Familie wurde meine Ersatzfamilie.
Fächer wie »Samhälle«, also Gesellschaftskunde, waren besonders hart für mich. Aber ich entwickelte hier einen Ehrgeiz wie noch nie. Manche Worte musste ich zwei Wochen lang wiederholen, bis ich sie mir endlich merken konnte. Aber als ich nach sechs Monaten den ersten Gesellschaftskundetest mit »gut« bestand, war das für mich ein Meilenstein. Nach drei Monaten fing ich vorsichtig an zu sprechen, ich hatte bis dahin vor allem zugehört und meistens auf Englisch geantwortet. Die Witze meiner Klassenkameraden verstand ich oft nicht, meine eigenen versuchte ich am Anfang noch umständlich zu erklären, merkte aber, dass auch hier mein Humor anders war als der von anderen. Ich begann, die Klassiker der schwedischen Literatur zu lesen: Friedrich Mobergs »Utvandrarna« oder Strindbergs »Röda Rummet« – alles, was ich in die Finger bekommen konnte.
Aber ich war eine Außenseiterin. Ich war irgendwie »deutsch«, was in unserer Klasse so viel wie »merkwürdig« bedeutete. Doch ich blieb. Anders als ich wurde Oksana, das Mädchen aus der Ukraine, von großem Heimweh geplagt. Sie sehnte sich nach ihren Freunden und nach Kiew. Aus einer Pralinenschachtel hatte sie das Panorama der Stadt ausgeschnitten und in ihrem Zimmer aufgehängt. In den Augen der anderen war sie noch merkwürdiger als ich; temperamentvoll, selbstbewusst und, wenn ihr etwas nicht passte, konnte sie sehr laut werden. Ich habe sie für ihr Selbstbewusstsein bewundert. Ich glaube, für sie stand das Abenteuer im Vordergrund, nicht so sehr, wie bei mir, der Glaube. Das war im Nachhinein gesehen sicher die gesündere Einstellung.
Ich tat alles, um mich zu assimilieren. Ich lernte, las viel, versuchte, einen kleinen Chor und eine Tanzgruppe zu gründen, was beides misslang. Stand morgens früh auf, um unten im Werkzeugkeller zu beten und meinen Geist zu schulen oder um verschämt auf meiner Klarinette zu üben, damit mich keiner hörte. Aber ich schaffte es nicht, mit der gleichen Disziplin zu üben, die ich in Berlin beim zweiten Anlauf so mühsam entwickelt hatte. Das Versprechen, das man mir gegeben hatte, an der schwedischen Schule gäbe es eine sehr gute Musiklehrerin, die sich um mich kümmern würde, erwies sich als falsch. Die Lehrerin kam wochenlang nicht, hatte dann keine Zeit und verschwand bald darauf endgültig. Auch dass ich Kurse an der Musikhochschule in Malmö besuchen könnte, erwies sich als kaum durchführbar. Die Bahnfahrt nach Malmö konnte ich mir nur selten leisten. Und um überhaupt zum nächsten Bahnhof zu kommen, musste ich erst einmal jemanden auftreiben, der willens war, mich mit dem Auto dorthin zu fahren. An klassischer Musik war außer mir niemand interessiert. Außerdem wurden wir nach der
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