Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
den IKEA-Einkäufen im Taxi nach Hause fahren musste. »Das passt da nie alles rein«, war sein Standardspruch. Aber er kommt und hilft, wenn er kann. Leider hat er nichts Zupackendes und ein Handwerker ist er schon mal gar nicht. Die Konzentration, Geduld und eiserne Disziplin, mit der meine Mutter IKEA-Möbel zusammenschrauben kann, hat er nicht. Hätte ich bei ihm gelebt, hätte ich sicher sehr viel mehr zu spüren bekommen, was es heißt, wenig Geld zu haben. Und dazu noch eine gehörige Portion Unmut – mein Vater schimpft über alles, was er nicht ändern kann. Meine Mutter sagt nie ein Wort. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, aus dem Allerwenigsten das Meiste herauszuholen.
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Als wir in Spandau wohnten, musste meine Mutter, solange ich bei ihr lebte, nicht zum Jobcenter, sondern zum Jugendamt. Und da, so sagt sie, sei sie »immer sehr freundlich« behandelt worden. Nur einmal musste sie sich auch dort richtig durchsetzen. Nach unserem Umzug musste sie einen Neuantrag stellen, weil die Akte nicht von Kreuzberg nach Spandau übermittelt worden war. In der ersten Zeit bekam sie deshalb das Geld vom Postboten an der Wohnungstür ausgezahlt. Zuerst pochte er an die Tür, als käme er um Schulden einzutreiben anstatt Geld auszuzahlen, und dann vergaß er nie, dabei ein hämisches Grinsen aufzusetzen. Für meine Mutter war das eine demütigende Szene. Schon wenn sie die Tür öffnete, fingen ihre Hände an zu zittern, und den Moment, wenn sie unter den Augen des Postboten das Geld nachzählen musste, fürchtete sie besonders.
Nach ein paar Wochen kam auf ihre Bitte hin das Geld wieder aufs Konto und ihr wurde ein Dispokredit gewährt, ein kleines Privileg der Unterprivilegierten. Damit hat sie uns und unsere Träume durchgebracht und in mir die Illusion genährt, dass Geld, außer für Luxusgüter, keine entscheidende Rolle spielte. Wenn andere aufs Amt mussten, um einen Vorschuss zu erbitten, der dann womöglich nur auf wiederholte Nachfrage und mit entsprechenden moralischen Ermahnungen ausgezahlt wurde, konnte sie zum Automaten gehen und Geld abheben.
Meine Mutter sagte zu vielen verschiedenen Gelegenheiten, wenn es um eine Anschaffung ging oder ihr etwas überhaupt nicht einleuchtete, immer wieder den einen Satz, der ihr Credo in allen Lebenslagen ist: »Man muss doch seinen gesunden Menschenverstand nutzen.« Gesunder Menschenverstand bedeutet, einem anderen nicht wehzutun, und sollte es doch passiert sein, seinen Schmerz zu lindern. Gesunder Menschenverstand heißt auch, dass Dinge, für die man bezahlt, eine gewisse Qualität oder einen ideellen Mehrwert haben müssen, sonst lohnt es nicht, dafür Geld auszugeben. Gesunder Menschenverstand heißt, hart zu sparen und sich trotzdem Träume zu erfüllen, die die Seele erfreuen. Und genau in diesem Punkt unterscheidet sich ihr (und auch mein) gesunder Menschenverstand von anderen. Entweder hat man Geld oder nicht, werden die meisten sagen. Aber so schlicht ist es nicht. Manchmal hat etwas einen so großen emotionalen Wert, dass selbst die Tatsache, dass man eigentlich kein Geld dafür hat, davor verblasst. Allerdings kann dieses dauernde Abwägen auch dazu führen, dass man den emotionalen Wert einer Sache überschätzt oder zu lange zögert. Ist das ein Kennzeichen von Armut?
Meine Mutter hat mich immer ermutigt, etwas zu tun oder etwas zu kaufen, das mir besonders wichtig war, auch wenn es vielleicht nicht »vernünftig« kalkulierbar war. Solche Käufe folgen einer anderen Logik, aber sie können einem oft für eine lange Zeit Freude oder Lebensqualität schenken. Und so kauft man ein zu teures Buch oder eine CD, ein Paar Stiefel oder ein Top, das man sich eigentlich nicht leisten sollte, ein Bier in der Kneipe oder Zigaretten, denn das ist der Luxus, den man sich ermöglichen kann. Meine Mutter hat auch die Anschaffung von Dingen entschieden, die vermutlich nicht jedem einleuchten. Warme Schuhe, eine gute Jacke, das sieht jeder ein, aber wer würde zum Beispiel darauf kommen, dass ein Sozialhilfeempfänger unbedingt rote Turnschuhe braucht, eine besondere Opernaufnahme oder einen Computer?
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