Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
anschlussfähig? Jedes Mittagessen allein ist eine verpasste Karrierechance!« hängen würde. Ich langweile mich jedes Mal zu Tode bei den Gesprächen über Hunde, Handtaschen und Fitnesskurse.
Und dennoch hatte ich, mehr versehentlich, ein Mittagessen mit der dienstältesten Reporterin der Redaktion. Sie war auf Recherchereise gewesen und hatte ihren Mittagskalender vernachlässigt. Also schaute sie ins Zimmer und fragte, ob noch jemand zum Essen mitkäme. Es stellte sich heraus, dass alle außer mir vergeben waren. Irgendwie war das an sich schon etwas peinlich. Nun hatte sie die Praktikantin am Hals. Ich wette, an dem Tag wäre sie auch lieber allein essen gegangen, aber keiner von uns kam nun noch aus der Nummer wieder raus. Die Runde vorbei an den Essensstationen konnten wir noch mit Belanglosigkeiten überbrücken. Am Tisch kam dann die Frage, vor der ich mich fürchtete: »Und? Wie gefällt es dir?«
Man muss dazu wissen, dass ich schon jeden Tag mit dem Gedanken spielte, das Praktikum einfach abzubrechen. Die 420 Euro Vergütung reichten nur für das Zimmer und die Fahrt in die Stadt. Zwei Euro von meinem Lohn musste ich für die Kontoführung des Verlags bezahlen, damit man mein Gehalt abrechnen konnte. Ich kann nicht gut lügen. Ich habe wohl so etwas wie »interessant« gesagt. Dann Stille. Was konnte ich sie fragen? Wir hofften beide, dass das Essen schnell vorüberging. Sie hielt das Schweigen nicht aus: »Und wo siehst du dich in drei Jahren?« Schweigen wäre mir lieber gewesen. Sie musste doch irgendetwas über die Stadt parat haben oder einfach aus ihrem Nähkästchen eine Anekdote erzählen können! Aber eine Frage wie in einem Bewerbungsgespräch? Sollten sich gestandene Journalisten nicht durch gute Beobachtungsgabe und Sensibilität auszeichnen und dadurch die verschiedensten Menschen zum Sprechen bringen können?
Leider hatte ich damals nicht die Chuzpe zu sagen, dass ich fest davon überzeugt sei, in drei Jahren Giovanni di Lorenzo abzulösen. Stattdessen verweigerte ich mich und sagte, ich hätte im Moment keine Zeit, mich mit der Zukunft »in drei Jahren« zu beschäftigen, ich hätte genug damit zu tun, dass ich Brot auf den Tisch bekäme. Sie schwieg wieder.
Nach einer Denkpause fragte ich sie dann, was die spannendste Reportage in ihrer Karriere gewesen sei. Ich fand das eine um Längen intelligentere Frage als die, die sie mir gestellt hatte. Und die Antwort reichte glücklicherweise den ganzen Weg, von der Kantine bis zu unseren Arbeitsplätzen, wo wir uns endlich verabschieden konnten.
Nachdem ich auch noch den Auftrag abgelehnt hatte, eine unsinnige Recherche über Fernsehserien durchzuführen, die ich nie gesehen hatte und auf die ich keine Lust hatte, bat man mich, für die verbleibenden Wochen etwas diplomatischer zu sein. In einem Gespräch mit meiner Vorgesetzten, in dem ich fragte, wozu ich denn noch etwas schreiben könnte, bekam ich zu hören: »Schön, dass du motiviert bist, aber es gibt gerade nicht so viel. Viel für deine Mappe wirst du nicht machen können. Es ist eine schlechte Zeit, alle Projekte sind abgeschlossen für die nächste Zeit. Es muss von allein kommen, es muss wachsen, warte noch etwas. Es tut uns leid, wir sind sonst offen und fröhlich, aber gerade wurden Leute gefeuert und du hast Pech, die Stimmung ist nicht so gut wie sonst.«
Warum hatte man dann überhaupt eine Praktikantenstelle besetzt? Ich hatte mehreren Redakteuren kleine Themenvorschläge gemacht, nachgefragt, was passen könnte, ob es etwas gäbe, was ich zuarbeiten könne. Die Antwort war jedes Mal enttäuschend gewesen: »Da lassen wir prinzipiell keine Praktikanten mehr ran, im Moment gibt es nichts. Wenn du eine Idee hast, melde dich. Früher gab es die und die Rubriken, die man Praktikanten geben konnte, leider wurden sie eingestellt.«
Nun ja, so viel war klar, meine Stimmung war auch nicht gut. So weit beruhte wenigstens etwas auf Gegenseitigkeit.
Als mir am letzen Tag einer aus dem Chefzimmer sagte, man merke, ich sei aufmerksam, kritisch und würde erstens mitdenken, zweitens sagen, was ich denke, und das fände er gut, dachte ich, er wolle sich über mich lustig machen. Oder er würde gleich zum großen ABER-Schlag ausholen. Aber er meinte es so, wie er es gesagt hatte. Das hat mich verwundert und sehr ermutigt, doch noch etwas weiterzusuchen nach dem Ort, an dem ich vielleicht zur Abwechslung einmal als »normal« und nicht nur als kantig und »sozial gestört« gelte, wie
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