Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
Zukunftsperspektiven.
Bin ich zu empfindlich?
Das nächste Mal, als ich bei ihm bin, um die letzten Formalitäten zu klären, fragt er gleich nach meinen Eltern. Ich versuche abzuwehren. Auf die Prüfungsthemen zu lenken. Ich fühle mich wieder angegriffen von seinen Vorurteilen und dem »Exoten-Etikett«, das er mir nun angeklebt hat: Frau Zimmer, Sonderexemplar Aufsteigerin. Meine Prüfungsberatung ist wieder zu kurz gekommen. Dafür sollte ich eigentlich ihm ein schlechtes Gewissen machen.
Beim Prüfungstermin bedankt er sich überschwänglich bei der Beisitzerin, die die halbe Stunde immerhin als Arbeitszeit verrechnen kann. Ich höre von draußen, als ich auf das Ergebnis warte, dass er ihr einen Kaffee anbietet. Für mich, den nervösen Prüfling, gibt es nicht einmal ein Glas Leitungswasser. Irgendwie hatte ich mir das alles respektvoller vorgestellt. Die Prüfung lief nicht so gut, wie ich es erhofft hatte. Das lag vor allem daran, dass mein Professor mit den Theorien seiner Kollegin, mit deren Buch ich für mein Thema gelernt hatte, nicht ganz einverstanden war. Das Ergebnis war trotzdem gut. Die Wissenschaftswelt ist mir zu darwinistisch, habe ich in jenen Wochen für mich beschlossen.
*
Versagensängste. In der Abschlussphase meines Studiums habe ich angefangen, in meinen Tagebüchern zu notieren, wie oft ich müde bin, das Gefühl habe, keine Kraft mehr zu haben. Ängste plagen mich: Zukunftsängste, die Angst zu scheitern, die Angst, allein zu sein. Ich mache mir seitdem immer wieder Zeitpläne, wie ich es in der Therapie und in der psychologischen Beratung der Uni, die ich vorsichtshalber aufgesucht habe, gelernt habe. Ich kann alles bewältigen, was unbedingt erledigt werden muss, aber meine Leistungen sind extrem stimmungsabhängig. Und ich habe permanent Geldsorgen. Zwischendrin verschwende ich meine Zeit für die Korrekturen von Hausarbeiten meiner Freunde.
Meine eigenen Lernziele erreiche ich zwar, aber nicht so schnell, wie ich es gern hätte. Die Tage ziehen sich, das Gefühl der Kraftlosigkeit verstärkt sich. Ich schleppe mich mit Mühe vom Bett bis zum Schreibtisch. An manchen Tagen bleibe ich einfach liegen und starre an die Decke. An Silvester auch. Ich stehe nur auf, wenn ich einen Termin einhalten oder zur Arbeit gehen muss. Ich fühle mich einsam und allein, aber ich habe kein Bedürfnis nach Gesellschaft. Ich wünsche mir eine Pause-Taste für mein Leben, einmal ausschalten, den Druck abstellen. Aber es geht nicht. Es geht für die nächsten Jahre nicht. Ich muss arbeiten gehen, Geld verdienen. Heute faul, morgen Katastrophe. So kann man sich nicht entspannen. Keine mit einem Datum verknüpfte Ziellinie ist am Horizont erkennbar. Jede kleine Leistung ist ein Kraftakt und ich mache immer weiter, weil ich mir keine Pause leisten kann. Mache langsamer, damit ich mich überhaupt vorwärtsbewege, weil ich zu dem Punkt gelangen möchte, an dem sich die Anstrengung gelohnt hat. Aber je langsamer ich werde, desto weiter rückt er in die Ferne.
Die Klausuren laufen gut, aber als ich meine erste mündliche Prüfung habe, kann ich mich innerlich überhaupt nicht darauf einstellen. Ich hetze von meinem Caféjob direkt zur Prüfung. Damals war ich noch neu in der Gastronomie, und ausgerechnet an diesem Tag hatte sich zum ersten Mal ein Ehepaar über mich beschwert. Meine Gedanken sind überall, aber kaum bei der Prüfung, die gleich beginnen soll. Meine Prüferin war sehr krank, deshalb treffen wir uns bei ihr zu Hause. Ich habe ihr einen Strauß Pfingstrosen gekauft, aus Höflichkeit und als Ausdruck meiner Genesungswünsche. Sie interpretiert es als Bestechungsversuch. Scherzhaft natürlich. So ein Blödsinn, denke ich noch und fühle mich gekränkt und missverstanden. Mein Hals ist trocken. Ich muss wieder um ein Glas Leitungswasser bitten. Erst dann komme ich innerlich in der Situation an und kollabiere. Als die Prüfung beginnen soll, bekomme ich für mich selbst überraschend einen richtigen Heulkrampf. Ich habe die Kontrolle komplett verloren und gehe auf den Balkon, um mich zu beruhigen. So etwas ist mir noch nie passiert.
»Sind Sie gesundheitlich in der Lage, diese Prüfung abzulegen?«
Ich könnte jetzt einfach nein sagen. Ich sage: »Ja, es kann losgehen.«
Es wird eine 1,7. Verhältnismäßig schlecht dafür, dass wir uns alle sicher waren, dass es eine glatte Eins werden würde, wie die schriftliche Magisterarbeit. Und irgendwie fühlt sich die Note nach »Wir wissen, dass du
Weitere Kostenlose Bücher