Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
leise.
    »Wie geht das?«
    »Üben hilft.«
    Jetzt lächelte sie. »Aber nennt man das nicht Verdrängung?«
    »Nicht, wenn man weiß, daß man es tut«, sagte er und dachte an Hilde. Früher hatte er sie nicht verstanden. »Menschen können ohne Erinnerung nicht leben«, hatte sie oft gesagt. »Aber auch nicht, wenn sie nicht vergessen dürfen.«
    Auf Annes Wecker war es fünf Uhr früh, als er ging. Sie schlief, die blonden Haare über das Kissen gebreitet. Er küßte sie auf die Schulter.
    Fast hätte er ihn vergessen, den kleinen Gegenstand, der auf dem Boden lag neben dem Bett. Sie hatte ihn im Bunker gefunden, direkt neben dem Loch mit der Leiche. Irgendwann war sie urplötzlich aus dem Bett gesprungen und hatte hektisch nach ihrem Jackett gesucht. Dann hatte sie das Fundstück triumphierend hochgehalten. Er hob es auf, sah es lange an, schloß dann seine Finger darum und steckte es in die Tasche. Er zog so leise wie möglich die Tür hinter sich zu.
    Im Treppenhaus roch es nach Putzmittel. Der Morgenhimmel war noch grau. Die Luft schmeckte nach Herbst.

10
    Sie wachte auf – so gelöst, wie lange nicht mehr. Sie hatte seinen Geruch in der Nase, spürte seine Hände, hörte seine Stimme. Im ersten Moment war sie enttäuscht, als sie sich zu ihm umdrehen wollte und niemand neben ihr lag.
    »Jon?«
    Hatte sie geträumt? Er war gegangen. Aber genauso hatten sie es verabredet, noch in der Nacht. »Halt du dich da raus«, hatte er gesagt, mit der Geste des Beschützers. » Ich rufe die Polizei an.«
    Sie guckte auf den Wecker. Das mußte er längst getan haben. Längst würden sie Peter gefunden und ihn herausgeholt haben aus seinem nassen Grab. Anne wickelte die Bettdecke enger um sich und ließ die gestrigen Ereignisse vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Der Bunker und die Dunkelheit, der Geruch, die Enge, ihre Angst. Sie bewegte unter der Bettdecke Hände und Finger. Sie hatte sich im Bunker die Handflächen aufgeschürft, sie brannten noch immer.
    Und dann – der Verwesungsgestank. Die Leiche. Nicht die erste in ihrem Leben. Fast hätte sie laut gekichert. Sie wollte sich doch wohl nicht daran gewöhnen?
    Warum so frivol, Anne? dachte sie. Warum so – euphorisch? Nur weil wieder mal ein Mann neben dir gelegen hat? Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Das war es nicht. Aber woher dann dieses tiefe Gefühl von Befreiung, das sie plötzlich durchströmte? Das alles war ein Albtraum gewesen, dort unten im Bunker – ihr höchstpersönlicher Albtraum. Aber sie hatte aus eigener Kraft wieder herausgefunden, sie hatte die Angst überwunden, diese Urangst, die sie ihr Leben lang begleitet hatte. Hatte Jon womöglich recht? Kann man vergessen? Hört die Erinnerung irgendwann einmal auf, Macht über die Menschen zu haben?
    Üben, dachte sie und lächelte beim Gedanken an seine Hände und an seine langsamen, fordernden Bewegungen. Sie kuschelte sich ins Kissen und dämmerte wieder ein.
    Mit dem alarmierenden Gefühl, etwas Wichtiges zu versäumen, schrak sie Stunden später wieder hoch. Es war schon Mittag. In einer Stunde begann die Fraktionssitzung. Anne sprang aus dem Bett.
    Beim Dauerlauf die Dorotheenstraße hinunter fluchte sie leise in sich hinein. Der Umweg über ihr Büro kostete Zeit, aber sie mußte vor Beginn der Sitzung noch ihre Unterlagen holen. Der Pförtner winkte ihr zu, als sie an ihm vorbeistürmte. Atemlos riß sie die Tür zu ihrem Büro auf. Es roch nach Zimt und Sandelholz. Auf dem Fußboden neben dem Papierkorb lagen, wie üblich, zusammengeknüllte Papiertaschentücher. Die Zang telefonierte. Schon wieder.
    Diesmal unterbrach die Sekretärin sofort ihr Gespräch. Sie wich Annes Blick aus und sagte ein fast schüchternes »Tag«. Anne blieb mitten im Raum stehen. Die Zang sah aus wie das verkörperte schlechte Gewissen.
    Und plötzlich spürte sie das unwiderstehliche Bedürfnis, die Frau zu quälen. »Privat oder dienstlich, Frau Zang?«
    »Es war nur …«
    »Kann es sein, daß Sie in letzter Zeit ein- oder zweimal zuviel telefoniert haben?« Sie genoß die Verlegenheit der Sekretärin.
    Die Zang schniefte auf. »Ich habe …«
    Anne hörte nicht mehr, was die andere zu ihrer Verteidigung vorbrachte. Denn plötzlich fügte sich ein weiteres Steinchen in das Puzzle. » Sie waren das mit dem anonymen Anruf, nicht? Gleich am ersten Tag?« Anne ahmte die Stimme nach, die ihr hatte Angst einjagen sollen. »Paß auf dich auf, Anne. Berlin ist nicht die Rhön.«
    Mechthild Zangs Gesicht war

Weitere Kostenlose Bücher