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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Armbanduhr – »sind sie ins Restaurant gegangen?«
    Karen nickte und ging zum Fahrstuhl. Sie spürte, wie die Unruhe in ihr wuchs. Schneller, verdammt, dachte sie. Als sich die Fahrstuhltüren oben zur großen Terrasse öffneten, stockte ihr der Atem.
    Die Szene wirkte, als ob jemand den Filmprojektor angehalten hätte. Saaldiener, Besucher und einige andere, die sie für Abgeordnete hielt, standen bewegungslos herum und starrten auf das Bild, das sich ihnen bot. Nur die Kräne bewegten ihre Ausleger durch die Septembersonne, die Karen für einen Moment blendete.
    Die Aussichtsterrasse über dem Reichstag war von einer Balustrade umgeben, einer breiten Mauer. Nur eine Reling schützte vor dem Abgrund. Auf dieser Mauer standen die Frauen. Zwei Frauen: die eine klein, zierlich, mit unordentlichen Locken, durch die sich das Sonnenlicht brach, in Jeans und Jackett. Die andere groß, aufgeschossen, mit glatten hellblonden Haaren und in einem strengen schwarzen Hosenanzug.
    Sie standen regungslos da oben, nur der Wind spielte in ihren Haaren; so regungslos wie all die anderen, die ihnen zusahen dabei. Die größere der beiden Frauen hatte sich der kleinen zugewandt, die Hände leicht ausgebreitet. Die kleinere umfaßte mit beiden Armen eine lange schwarze Tasche.
    Die Lippen Lilly E. Meiers bewegten sich, mehr konnte Karen von hier aus nicht sehen. Die Arme von Anne Burau hoben sich, unmerklich fast. Karen spürte, wie ihr Magen sich senkte.
    Sie kam zu spät, sie kam schon wieder zu spät, sie kam immer zu spät.
    Neben ihr begann es zu raunen, die Menschen redeten aufeinander ein, noch verhalten, aber mit wachsender Unruhe. Jetzt sagte Anne etwas. Und dann begann sie den Kopf zu drehen. In Karens Richtung. Gleich würde sie sie sehen.
    Im gleichen Moment begann sie loszulaufen. Sie sah die aufgerissenen Augen Anne Buraus, sah den offenen Mund von Lilly Meier, ohne mitzubekommen, was sie sagte. Und hörte den vielstimmigen Schrei der Umstehenden, als plötzlich nur noch eine der beiden oben auf der Balustrade stand, im Wind, schwankend, mit Entsetzen im Gesicht.
    »Sie ist weg!«
    »Sie hat sie hinuntergestoßen!«
    »Sie ist gesprungen!«
    Karen hörte ihren eigenen keuchenden Atem und die Kommentare der Zuschauer und, wie ein Echo, wieder und wieder den Satz: Du kommst zu spät. Du kommst immer zu spät.
    Aus der Ferne wehte der Klang von Martinshörnern herüber. Und plötzlich war es wieder still – so still, daß sie glaubte, das Geräusch zu hören, das entsteht, wenn der Ausleger eines Krans langsam die Luft zerteilt. Wuusch. Wuusch. Wuuuusch.

VIERTER FALL
     

1
    Rhön
     
    Kriminalhauptkommissar Gregor Kosinski straffte die Schultern und blinzelte in die Septembersonne. Er hatte die Hände in die Taschen seines Trenchcoats gesteckt und den Mund gespitzt. Nur der schräge Blick der jungen Frau mit dem vollen Einkaufskorb, die ihm entgegenkam, hinderte ihn am fröhlichen Pfeifen. Wenn alte Säcke sich daneben benehmen auf offener Straße, dachte er – wo kommen wir da hin?
    Dabei gab es noch nicht einmal Grund zu guter Laune. Er war schließlich nicht freiwillig Fußgänger – wer ging schon zu Fuß hier auf dem Land? Die Frauen, schön – wenn sie nicht gerade Fahrrad fuhren. Was blieb ihnen auch übrig? Ihre Männer stellten das Auto lieber sicher – da, wo ihm tagsüber nichts passieren konnte, zum Beispiel auf einem ruhigen und geräumigen Firmenparkplatz. Mit »Ökosteuern« auf Benzin durfte man dem an und für sich naturverbundenen Landvolk nicht kommen. Auf dem Dorf gehörte die Kiste zum Existenzminimum. Insofern war Kosinski arm dran: Seine war gestern mal wieder in die Knie gegangen.
    »Wolltest du nicht schon letztes Jahr …?« Beate hatte ihn süß und mitleidlos angelächelt. Er hatte tatsächlich irgendwann einmal aus Versehen das Wort »Neuwagen« ausgesprochen. Seither drückte der junge Reining just ihr regelmäßig die erlesenen Farbfaltblätter mit den neuen Modellen in die Hand.
    »Du gräbst dir damit selbst das Wasser ab, Jo!« sagte Kosinski ihm immer, wenn er die Reparaturrechnung bezahlte. »An so einem neuen Auto ist doch nix zu verdienen!«
    An seinem hingegen …
    Diesmal mußte zwar nur eine Bremsleitung erneuert werden, aber bis zum nächsten TÜV-Termin war einiges fällig – das Bodenblech war fast durchgerostet.
    »Und wie sieht denn die Karre aus – ich meine, rein äußerlich. Und das bei einem Kriminal haupt kommissar«, hatte Jo Reining beim letzten Sicherheitscheck

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