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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Hand auf die Schulter gelegt und unverschämt gegrinst dabei. So konnte man es auch sehen, wenn man unbedingt wollte.
    Durch die geöffnete Tür hörte er Isolde reden. Sie telefonierte immer noch so, als ob die Segnungen der digitalen Revolution nicht existierten und sie Entfernung mit Lautstärke ausgleichen müsse. »Das kann jeder passieren«, trompetete sie gerade. »Das haben wir alle mal gemacht. Eine Abtreibung …« Die Person am anderen Ende der Verbindung schien einen Einspruch zu wagen. »Ach was! Du nimmst ein Taxi, Annalena, und nach einer halben Stunde ist alles vorbei!«
    Becker krümmte sich in seinem Stuhl, stellvertretend für Annalena, die offenbar noch immer nicht begriffen hatte, daß ihr Schicksal zum Fortsetzungsroman für die gesamte Redaktion geworden war. Das hatte vor etwa drei Monaten damit angefangen, daß Annalena über den lustlosen Sex mit ihrem Angetrauten geklagt haben mußte. »Probier’s mal mit einem anderen!« hatte Isolde ihr lautstark empfohlen. Daran mußte sich Annalena gehalten haben, denn in den Wochen danach nahm die halbe Redaktion am Liebestaumel der angeblich besten Freundin der angeblich besten Journalistin des Hauptstadtbüros teil.
    Hans Becker verzog das Gesicht. Er für seinen Teil hätte auf eine solche Freundschaft längst verzichtet. Isolde Menzi schonte nichts und niemanden, zugegebenermaßen auch sich selbst nicht, aber meistens waren die anderen das Opfer. Wie die unglückselige Annalena, deren neue Liebschaft nicht ohne Folgen blieb. Sie war nach kürzester Zeit schwanger und ihren Ehemann los. »Heiratet er dich wenigstens?« hatte Isolde in scharfem Ton gefragt. Gemeint war der neue Liebhaber. Dem »Ach so!« und »Hmmmh!« und dem etwas tiefer intonierten »Also so ein Schwein!« hatten Becker und alle anderen entnehmen können, daß nein. Und nun mußte also auch die Leibesfrucht dran glauben.
    Becker sah auf die Uhr und ließ den gelbschwarzen Faber Castell sanft und rhythmisch gegen das Wasserglas prallen. Isolde war erst seit kurzem beim »Journal« – eingekauft als knallharte Analytikerin und als beißwütiger Terrier, der keinen Fall losließ, den er mal gepackt hatte. Beides traf zu, das mußte er neidlos zugeben. Er nickte dem Kollegen Schiffer zu, der mit gerunzelter Stirn ebenfalls auf seine Uhr sah, bevor er sich an der gegenüberliegenden Seite des runden Tischs niederließ und in dem Packen von Bundestagsdrucksachen zu blättern begann, den er mitgebracht hatte. Isolde ließ sich von nichts und niemandem beeindrucken, roch jeden Skandal, kannte keine Rücksichten, war immer an vorderster Front.
    Schade, daß wir gerade keine Front haben, dachte Becker. Denn in der Redaktion war sie eine ziemliche Nervensäge, die Kette rauchte, unermüdlich Kaffee kochte und andauernd telefonierte, mit einer Lautstärke, der man sich auch bei geschlossenen Türen nicht entziehen konnte. Ihre Neugier war unerschöpflich, ihre Präsenz übermächtig. Becker versuchte stets, den Abstand zu ihr möglichst groß zu halten. Ihm blieb die Spucke weg in ihrer Nähe. Alles an ihr war zu laut: Ihre Stimme. Ihre Kleidung. Ihr Lippenstift. Sie nahm ihm den Atem.
    Er krauste die Nase in Erinnerung an ihren Geruch. Besonders schlimm war es, wenn sie frisch geduscht von ihrer täglichen Aerobicstunde kam, geradezu dampfend noch von der körperlichen Anstrengung. Einmal war sie strahlend und dynamisch ins Büro gekommen, hatte ihre Sporttasche fallen lassen und sich über den Schreibtisch gelehnt, ihm entgegen, wahrscheinlich nur, um ihm etwas zuzuflüstern. Es hatte ihm die Brillengläser beschlagen. In Panik hatte er seinen Stuhl nach hinten rollen lassen, »tschuldigung« gemurmelt und war auf die Toilette geflohen. Ihr Parfüm – es mußte ihr Parfüm gewesen sein. Es hatte ihn plötzlich an das Mückenspray erinnert, mit dem seine Oma immer das Kinderschlafzimmer eingenebelt hatte – bevor alle Welt wußte, wie gefährlich das war.
    Vielleicht war es auch … Hans strich mit der Fingerspitze über die lange weiße Narbe an seiner Schläfe und streckte die Beine von sich. Vor ein paar Wochen, als er wieder einmal versucht hatte, sich dünne zu machen in ihrer Gegenwart, hatte sie sich zu ihm umgedreht, ihm ins Gesicht geguckt und dann, ausnahmsweise einmal leise, gesagt: »Du hast Angst vor mir, Hansi.« Er hatte wie das Kaninchen im Angesicht der Schlange zurückgeguckt. Fast hätte er ergeben genickt. Aber dann hatte Gott sei Dank der Alte nach ihr

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