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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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gerufen.
    »MENZI!« Becker zuckte zusammen. Sonnemann war ins Zimmer gekommen, schlechtester Laune, wenn man nach dem Klang seiner Stimme ging und der robusten Zielstrebigkeit, mit der er zu seinem Sessel ging. »Verdammtes Weib!« murmelte der Redaktionsleiter, ließ sich in den Sitz fallen und knallte den Stenoblock auf die Tischplatte.
    »Wo ist Zettel?« Keiner sagte was. »Wieder nicht da. Bin ich denn hier unter lauter Idioten?« Auch das mußte man nicht kommentieren. Es gehörte zum morgendlichen Ritual. Ebenso wie der kalte Luftzug, der Isoldes Auftritt begleitete, denn sie pflegte im Vorübergehen stets demonstrativ ein Fenster aufzureißen – als rituellen Protest gegen das Rauchverbot während der Konferenzen. Heute trug sie zum eisblauen Blazer ein knallrotes Tuch, registrierte Hans, als Isolde mit dem gewohnten »Ratsch!« das Fenster hinter seinem Rücken öffnete.
    »Guten Morgen!« sagte sie und zeigte die Zähne.
    »Wird auch Zeit!« Sonnemann ließ sich zu keinen Höflichkeiten hinreißen. »Wo ist Zettel?«
    Isolde guckte, als ob ihr das passende biblische Zitat vorübergehend entfallen wäre. »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« murmelte Becker.
    »Was?« brüllte Sonnemann.
    Das heißt »Wie bitte«, dachte Becker und ließ sich noch ein paar Zentimeter tiefer in den Sessel sinken. Er hatte sich noch immer nicht an den Ton gewöhnt, der in das früher so beschauliche Berliner Büro eingezogen war, seit Sonnemann die Geschäfte führte. Sonnemann mit dem kahlen Schädel und dem Stiernacken und dem breiten Kreuz. Sonnemann, das Tier. Sonnemann, der Vater der Kompanie. Trotz seines rauhen Tons wußten in der Redaktion alle, was sie an ihm hatten. Im Ernstfall stand er eisern hinter ihnen – vor allem gegen »die da oben«, gegen die Chefredaktion im hohen Norden. Wirklich gefährlich wurde er erst, wenn er leise oder gar höflich wurde.
    Hinter ihm ging die Tür auf. »Herr Sonnemann?« Die Sekretärin, Frau Novak, war die einzige hier, die der Büroleiter zu respektieren schien. Ihre kurzen schwarzen Haare waren graumeliert, und sie wirkte in ihrer dunkelgrauen Bügelfaltenhose mit der weißen Bluse und der gestreiften Weste »tipptopp«, wie Beckers Mutter sagen würde. Unwillkürlich mußte er beim Gedanken an den spitzen Mund grinsen, den seine Mutter immer gemacht hatte, wenn sie »tipptopp« oder »1a« oder »einwandfrei« sagte.
    »Ein Herr von der Frankfurter Staatsanwaltschaft ist am Apparat. Es sei dringend.« Becker sah der Novak an, daß sie am liebsten »Das sagen sie alle!« hinzugefügt hätte. Noch spitzer hätte sie nur reagiert, wenn der Staatsanwalt eine Staatsanwältin gewesen wäre. Die Novak hielt nichts von Frauen, die sich »überhoben«, wie sie es gern nannte – die eine andere Rolle anstrebten als jene dienende, die sie nun schon seit über 30 Jahren mit Perfektion ausfüllte. Isolde und sie führten deshalb von Beginn an eine Privatfehde, die man Krieg nennen müßte, wenn die Novak sich nicht auf eine Guerillataktik der stillen Verweigerung und beiläufigen Sabotage beschränken würde.
    Sonnemann murmelte mißmutig vor sich hin, warf den Kugelschreiber neben den Notizblock und stand auf. »In fünf Minuten!« sagte er drohend in die Runde. Als er aus der Tür war, setzte das übliche Stimmengewirr ein.
    »Ja, wo ist er denn, dein Freund Zettel?« rief Eyring über den Tisch in Richtung Isolde, die eine aufgeklappte Puderdose in der Hand hielt und sich die Lippen nachzog. Dabei waren die weiß Gott rot genug, dachte Becker, der ihr fasziniert und abgestoßen zugleich dabei zusah.
    Isolde preßte die Lippen gegeneinander und rollte sie dreimal hin und her. »Woher soll ich das wissen? So dicke sind wir nicht!«
    »Man fragt ja nur!« Eyring lachte, als ob er einen guten Witz gemacht hätte. Vom niederen Antrieb des Ehrgeizes abgesehen, den Zettel und Menzi gemein hatten, waren die beiden grundverschieden. Zettel machte auf bescheiden und verstand es, seinen Informanten das Gefühl zu geben, er täte ihnen einen Gefallen, wenn sie ihm Auskunft gaben. Isolde war offen, direkt und fordernd. Hans Becker wünschte sich manchmal, sich von beiden eine Scheibe abschneiden zu dürfen: Von Peter Zettel hätte er gern die strategische Raffinesse und von Isolde ihr unerschütterliches Selbstbewußtsein. Und weil es ihm an beidem mangelte, hieß er bei fast allen in der Redaktion Hansi. Und nicht Hans. Hansi, der kleine, unauffällige Blindgänger, dem die Brille beschlug,

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