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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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ein, die nach Groß-Roda führte. Auf der kleinen Anhöhe erwartete ihn eine Delegation schwarzer Krähen, die auf dem Asphalt eine Versammlung abgehalten hatten und erst aufflogen, als er kurz vor ihnen war. Das laute »Kraaah«, das sie ausstießen, hörte sich wie eine Verwünschung an.
    Hörst du das, Anne? dachte er. Seit du fort bist, geht alles schief. Der jüngste Sohn der Großfamilie, die vor zwei Jahren in den verfallenden Dreiseitenhof zwischen Waldburg und Streitbach eingezogen war und die alle die »Russen« nennen, obwohl sie sich selbst als »deitsch« bezeichnen – Josef jedenfalls war auf dem Nachhauseweg von der Kirmes in Haslingen erstochen worden. Er hatte Anne im letzten Jahr beim Ausbau der Scheune geholfen, sie mochte ihn.
    Und das war noch nicht alles. In Ottersbrunn hatte es in den frühen Morgenstunden gebrannt, zwei Pferde waren umgekommen, ein Mensch überlebte schwer verletzt, das ganze Dorf war in heller Aufregung, weil alle fürchteten, es könne sich wieder ein Brandstifter herumtreiben.
    Interessiert dich das, Anne? dachte er. Wahrscheinlich nicht. Und sicherlich auch nicht, daß ihm gestern seine Lieblingskatze unter die Räder gekommen war. »Seine« Katze, auch wenn sie eigentlich den Nachbarn gehörte, deren verfressene Viecher sich allmorgendlich und allabendlich vor Bremers Haustür versammelten, um zuzuhören, wie er den Dosenöffner ansetzte. Er hatte sich schon zigmal vorgenommen, die Kerle nicht mehr durchzufüttern und vor allem sein Herz nicht an Tiere zu hängen, deren Lebensspanne durch Hochwasser, Traktoren, Katzenhusten und Hunde drastisch begrenzt war. Aber wie von fremder Hand hineingelegt fanden sich bei jedem größeren Einkauf Dosen mit Katzenfutter in seinem Einkaufswagen, Magnum und Premium, versteht sich.
    Über den Himmel zog eine Wolkenformation, die von ferne wie eine Katze aussah, die sich über eine Maus krümmte. Bremer sprintete die Birkenallee hoch und zählte die Windmühlen am Horizont. Manchmal, wenn Heißluftballons fauchend über seinem Dorf standen, man das Klippklopp hörte, das einen einsamen Reiter oder eine Pferdekutsche ankündigte, wenn Drachenflieger in der Thermik am Südhang des Berges zu Tal schwebten und in der Ferne das Dröhnen alter Propellermaschinen erklang, fühlte er sich in einer anderen Zeit und in einer anderen Welt, in der nur noch der Rote Baron, Graf Zeppelin, Ikarus und Don Quijote auf seiner Rosinante fehlten.
    Nein, Anne wollte bestimmt nichts mehr wissen von ihrer Heimat. Plötzlich schien sie ihm weiter weg als die läppischen vierhundert Kilometer, die zwischen der Rhön und der Bundeshauptstadt lagen. Er bog in den Feldweg ein, der nach Klein-Roda führte. Die Felder waren kahl, der Boden schwarz und aufgerissen, und die Luft roch nach Gülle. Leuchtend rote Früchte übersäten die Vogelbeerbäume am Waldsaum. Mitten auf der Straße, am Dorfrand, stand eine Gestalt, schwankend, die Arme in den Himmel gestreckt. Als er näher kam, erkannte er Erwin – wahrscheinlich wieder knülle wie ein Lurch. Paul fuhr langsamer.
    Erwin schien einen unsichtbaren Chor zu dirigieren – mit weitausholenden Armbewegungen, die Bierflasche in der linken Hand. »Keiner kommt durch«, hörte er ihn brüllen.
    Bremer schüttelte den Kopf und hob sich aus dem Sattel. Ungläubig ließ er sich wieder sinken und trat schneller in die Pedale, bis er hinter Erwin war. Dann bremste er.
    Vor seinem betrunkenen Nachbarn stand ein Panzer, das Geschützrohr zum Himmel gerichtet, im Geschützturm ein junger Soldat, der den Helm abgesetzt hatte und sich mit der Hand durch die naßgeschwitzten Haare strich. Verlegen sah der Kerl aus, was kein Wunder war, wenn man sein Gegenüber betrachtete. Erwin war blaurot im Gesicht und lallte mit strahlenden Augen auf eine Versammlung von der Stärke einer halben Kompanie ein. Hinter dem Panzer stauten sich Kettenfahrzeuge und Jeeps. Das kleine Dorf war vollständig blockiert.
    Nato-Manöver, dachte Bremer, der hätte gewarnt sein können, es hatte schließlich in der Zeitung gestanden. Vorbei waren die Zeiten, kurz nach dem Ende der Sowjetunion, als niemand solche Truppenbewegungen mehr für nötig gehalten hatte. Jetzt übten sie wieder, die Jungs von der Bundeswehr und ihre Verbündeten, legten ganze Landstriche lahm und demonstrierten Zivilität, wenn sich ihnen ein Verrückter wie Erwin in den Weg warf.
    »Komm, Erwin.« Paul versuchte ihn am Ärmel wegzuziehen.
    »No pasarán!« rief Erwin wieder, und

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