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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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eher geneigt, das Kind für ein bißchen beschränkt zu halten.
    »Bei manchen dauert’s halt ein bißchen länger«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
    Er griff sich die Fernbedienung, ließ sich auf die Bank fallen und suchte nach dem Sender, der die Sitzungen des Bundestags übertrug. Es wunderte ihn nicht, daß die Station bei seinen Nachbarn nicht einprogrammiert war. Wer tat sich das Geschwätz schon freiwillig an? Nach fünf Minuten hatte er den Sender gefunden. Die Sitzung war in vollem Gange. Wo Annes Fraktion saß, ließ sich leicht feststellen. Aber wo sie saß, nicht.
    Bremer mahnte sich zu Geduld. Die Leute hinter den Fernsehkameras konnten schließlich nicht wissen, daß es das brennende Bedürfnis eines einzelnen Zuschauers in der tiefsten Rhön war, eine weder besonders auffallende noch besonders prominente Bundestagsabgeordnete inmitten der 669 frei gewählten Volksvertreter auszumachen. Dennoch war nicht ganz einzusehen, warum die Kamera nun schon seit Minuten, ohne eine einzige Totale zur Erholung, auf dem nackten Schädel des Redners verweilte – einem der prominenteren Abgeordneten, wie hieß er doch gleich? Paul nahm einen Schluck aus der Bierdose. Solange der Heini sprach, hatte er keine Chance.
    »Und? Hast du deine Abgeordnete schon gefunden?« fragte Marianne, wider Erwarten mit milder und von Eifersucht freier Stimme. Eifersucht lohnte sich ja auch nicht mehr, seit Anne die meiste Zeit weit weg sein würde.
    Ob sie sich schon verändert hatte in den paar Tagen? Ob sie schon diesen seltsam leeren, Weitläufigkeit mimenden Blick drauf hatte, den Politiker zu kultivieren pflegten? Ob sie ein Kostüm anhaben würde? Hochhackige Schuhe? Eine neue Frisur?
    Bremer merkte, daß ihn nicht die Bohne interessierte, um was es im Hohen Haus gerade wieder ging. Nichts gegen die Segnungen von Demokratie und Parlamentarismus, aber momentan fühlte er sich mit jeder Faser als Privatmensch. Man konnte schließlich nicht immer auf zoon politicon machen.
    Endlich hatte der zweifellos sehr bedeutende Redner seinen Sermon beendet, und der Kameramann zog auf. Er sah sie sofort, wie sie den Gang von einer der unteren Reihen nach oben hochging. Wie lebendig sie wirkt, dachte er. Wie schnell sie sich bewegt in den schwarzen Hosen und den Schuhen mit Absatz – als ob sie nie in Gummistiefeln durch den Modder geschlurft wäre. Wie sie lächelt, nach links, nach rechts. Wie schön sie ist.
    Plötzlich sah sie hoch, in seine Richtung, gleich, dachte er, winkt sie mir zu. Dann bewegte sie sich heraus aus dem Gesichtskreis der Kamera. Paul Bremer hatte plötzlich das Gefühl, dabei zuzusehen, wie Anne aus seinem Leben verschwand und in ein anderes überwechselte. Für immer?
    Als Marianne ihn weckte, murmelte er schlaftrunken: »Anne.«
    »Du bist ja wie mein Alter«, sagte sie. »Einschlafen! Vor der Glotze! Mit der Bierdose in der Hand!«
    Bremer antwortete nicht. Er war müde, angesäuselt und sehnsüchtig.
    Als er nach Hause schlurfte, brachte im taubenblauen Himmel über seinem Kopf ein Tornadopilot sein Geschoß gemächlich nach Hause, Richtung Abendsonne, ins Bett. Abendstille überall.
     

ZWEITER FALL
     

1
    Berlin
     
    Der Wind ballte den weißen Staub zu einer Wolke und trieb sie vor sich her. Vorsichtshalber schloß er die Augen – es gab ja sowieso nicht viel zu sehen. Auf dem blaßblauen Bauzaun, vor dem man auf die Zehenspitzen gehen mußte, um darübergucken zu können, stand »Zettel ankleben verboten«. Dahinter klaffte ein tiefes Loch, hoch oben schwangen Kräne ihre Ausleger majestätisch durch das vom Hochnebel gedämpfte Morgenlicht. Ein Preßlufthammer ratterte, auf der Straße hupte es, Männer mit gelben Helmen auf dem Kopf brüllten einander hinterher. Er ballte die Fäuste in den Manteltaschen. Was auch immer hier einst gewesen war – es war spurlos verschwunden. Alles hatte man aus dem märkischen Sand gerissen, die brandgezeichneten wilhelminischen Quader, die gewaltigen Stahlträger, die verbogenen Schienen, die Fundamente. Das Alte war abgeräumt worden. Bald würde an seiner Stelle der neue Lehrter Bahnhof stehen. Hier war nichts mehr zu finden.
    Er konnte sie sich mühelos in Erinnerung rufen, die geschwungene Flagge, darin eingraviert der Namenszug »Walther«. Den kurzen, stahlglänzenden Lauf. Den Abzug, gekrümmt wie eine Tigerkralle. Den Schaft mit der geriffelten Oberfläche, der die Waffe sicher in der Hand liegen ließ. Und die Nummer unter dem Lauf:

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