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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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schüchtern an, wenn sie einander begegneten.
    »Das Auto werde ich auch mal fahren«, hatte sie kürzlich laut flüsternd einer Freundin mitgeteilt, mit der sie sich vor Bremers Cabrio aufgebaut hatte. Eigentlich sollte er Mitleid mit dem Kind haben.
    Beim fünften Mal »All by myself« und dem dritten Zaunstück ging ihm die Vorstreichfarbe aus. Fast war er froh darüber, daß es nun keinen Vorwand mehr gab, sich der Stimme des Herzens zu versagen, der es gelungen war, sich in der letzten halben Stunde gegen all das Geplärre und seinen eigenen Widerstand geltend zu machen.
    Er wollte sie sehen – die Verräterin. Die Fahnenflüchtige. Bremer knurrte in sich hinein, während er die Farbtöpfe wegräumte und die Pinsel mit Terpentin reinigte. Er hatte noch immer nicht verdaut, daß sie einander fremd geworden waren in den letzten Monaten. Und auch nicht, daß sie damals ausgesprochen hatte, was er am liebsten sogar vor sich selbst verborgen hielt. Er hatte Angst – genau wie sie –, hier auf dem Lande festzuwachsen und das Leben zu versäumen. Er fürchtete sich vor dem Verbauern – und davor, irgendwann mal mit den Gummistiefeln voraus aus seiner Hütte herausgetragen zu werden.
    Andererseits: Was verpaßte man denn schon? Andere Leute lebten auch so. Andere Leute waren glücklich so – mit der täglichen Wiederkehr des Gleichen. Mit den einfachen Dingen des Lebens. Mit Sonnenauf- und -untergang, mit dem Wechsel von Wetterlagen und Jahreszeiten. Sie brauchten keine großen Ziele, Ansprüche, Vorhaben – keine weit ausgreifenden Vorstellungen von dem, was wichtig ist im Leben, Utopien, die sich meistens als pure Illusionen erweisen.
    Ich, hatte er Anne in einem der inneren Dialoge vorgehalten, die er fast ständig mit ihr führte – ich bin glücklich mit dem, was das Leben in Klein-Roda zu bieten hat. Mit meinem Haus. Mit meinem Garten. Mit Nachbars Katzen. Auf meinem Fahrrad. Und mit dem bißchen Erfolg durch die paar unerheblichen Bücher, die ich nebenbei schreibe.
    Er schob mit dem Fuß die maunzenden Fellknäuel zur Seite, die sich vor seiner Haustür versammelt hatten, und schrubbte sich in der Küche die Hände. Das Glück im Kleinen also, sagte eine spöttische Stimme in seinem Innern, von der er nicht wußte, ob es Annes oder seine war. Ein Prosit der normativen Kraft des Faktischen! Schon vergessen, den Satz: Nur wer das Unmögliche träumt …
    Bremer seufzte auf und stieg die Treppe hoch, um sich im Schlafzimmer saubere Klamotten anzuziehen. Gut – es gab ein Leben jenseits der Rhön. Schön – vielleicht machte der Job als Bundestagsabgeordnete Spaß. Aber hoffentlich, hoffentlich erlebte sie nicht zu viele Enttäuschungen. Hoffentlich waren die Herausforderungen, von denen sie so schwärmte, auch zu bewältigen. Hoffentlich trauerte sie nicht heimlich dem Vieh und der Mistforke hinterher.
    Hoffentlich, dachte er, denkt sie manchmal an mich.
    Dann stieg er wieder hinunter, ließ die Haustür hinter sich zufallen und ging um die Ecke zu Willi und Marianne.
    Marianne stand in der Küche und bügelte bei laufendem Fernseher; das Programm sah nach einer bekannten Talkshow aus, in der es angeblich schmuddeliger zuging als in anderen. Er konnte das nicht beurteilen, er hatte keinen Fernseher. Nicht aus Überzeugung, das nicht; er hatte sich, als der alte kaputtging, einfach keinen neuen Apparat mehr gekauft.
    Nur heute erschien ihm die Glotze als unverzichtbar.
    »Wo ist die Fernbedienung?« fragte er.
    Marianne zeigte mit dem dampfenden Bügeleisen auf das Tischchen neben der Bank. »Bier?« fragte sie.
    Als er nickte, winkte sie mit dem Kinn in Richtung Kühlschrank.
    Wahre Freundschaft, dachte er, fragt nicht, wenn Not am Mann ist.
    Das Bügeleisen glitt dampfend und zischend über eine rote Bluse. Durchs geöffnete Fenster hörte man es draußen »Böööh!« machen. Und dann, fordernd: »Oööhöööh.« Paul holte sich eine Dose aus dem Kühlschrank und riß sie auf. Das hörte sich nach Nicole an, der zweijährigen Tochter von Kathrinchen, die mit dem Kind über die Gass’ ging, wie jeden Tag, rauf und runter, immer wieder. Mit der gleichen Monotonie schrie die Kleine »Böööh«. Oder »Öööh.« Oder eben »Ööööhööööh«.
    »Spricht sie immer noch nicht?« fragte Paul.
    »Na ja.« Marianne stellte das Bügeleisen ab und hob prüfend die Bluse. Vor drei Wochen hatte sie noch behauptet, das kleine Mädchen sei ein wahres Naturtalent im Nachahmen ländlicher Geräusche. Bremer war

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