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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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sich verabschiedete. Selbst ihr Händedruck wirkte zögernd, zweifelnd.
    Aber konnte es wirklich Zweifel geben? Daß Bunge schwul war – nun, das war offenbar Teil eines für beide Seiten befriedigenden Abkommens. Man mußte einander nicht lieben, um eine Familie zu gründen. Aber würde eine Mutter, mehr noch: würde diese Frau dem Vater ihrer Kinder Päderastie verzeihen?
    Niemals, dachte Karen. Sie würde bis zuletzt daran festhalten, daß er Opfer einer Denunziation war – wie der junge Mann, für den sie ein so leidenschaftliches Plädoyer gehalten hatte. War er es aber nicht – dann würde ihre Rache unerbittlich sein. Er würde, anders als Harald Weiss, seine Kinder nie wieder sehen.
    Bunge mußte das gewußt haben. Wenn die Zeitungsmeldung stimmte, hatte er jeden Grund der Welt, sich umzubringen. Und die eigenartige Todesanzeige? insistierte eine innere Stimme. Diese Stimme aus dem Jenseits? Karen Stark packte ihre Aktentasche fester. Inszenierung. Selbstschutz. Eitelkeit noch über den Tod hinaus. Aber das alles war kein Grund, um nicht endlich das zu tun, was Manfred Wenzel all die Wochen über versäumt hatte – aus gänzlich persönlichen Motiven: die Akte Alexander Bunge zu schließen.

8
    Berlin
     
    Anne Burau hielt die Knie fest aneinandergepreßt und ballte die Fäuste, bis sie schmerzten. Die Gesichter um sie herum begannen zu verschwimmen, bis sie nur noch Hell und Dunkel sah, durchschnitten vom Jägergrün und Ochsenblutrot dessen, was die Herren in ihren gedeckten Anzügen als Ausrufezeichen letzter Individualität um den Hals trugen. Die Stimme des Ausschußvorsitzenden plätscherte wie ein träges Bächlein vor sich hin, während sie tiefer in den Sessel rutschte und nur eines fürchtete: daß die Runde im Dienst ergrauter Männer sie irgendwann einmal bemerken und fragen würde, was sie denn hier zu suchen hätte. Anne kam sich wie ein Spion vor, wie jemand, der sich eine Rolle anmaßt, die ihm nicht zusteht.
    Genau so schienen das auch die anderen zu sehen. Heute früh war die Sekretärin zwar nicht gleich wieder vor ihr geflüchtet. Aber die Frau – »Mechthild Zang«, hatte sie sich nach einem langen, vorwurfsvollen Blick schließlich vorgestellt – gab ihr deutlich zu verstehen, wer in ihrem Büro noch immer der Chef war: Alexander Bunge. Übers Grab hinaus.
    »Sie müssen das verstehen«, hatte Mechthild Zang gesagt und mit einem tiefen Schniefen untermalt. »Nach all den Jahren …«
    »Ich verstehe alles, Frau Zang, vor allem Ihren tiefen Kummer.« Himmel, kannst du lügen, dachte Anne. »Aber ich brauche ein funktionsfähiges Büro.«
    »Aber Sie sind doch …« Frau Zang hatte sich noch gerade rechtzeitig unterbrochen, aber Anne konnte den Satz in Gedanken mühelos weiterführen: »… ein völlig unwichtiger Neuling hier.«
    Die Frau schniefte auf. »Die Baukommission, Sie wissen ja, daß Alexander Bunge die Baukommission leitete …«
    »Ich bin ab heute ebenfalls Mitglied in der Baukommission. Und es wäre schön, wenn Sie mir die Protokolle der letzten vier Sitzungen besorgen würden.«
    Die Zang guckte sie mit offenem Mund an und riß sich schließlich sichtbar zusammen. »Ich gebe das in Auftrag.«
    »Sofort.« Anne genoß ihre Grausamkeit. »Ich brauche die Unterlagen sofort.«
    Danach war sie zu ihrer ersten Ausschußsitzung gegangen und jetzt saß sie hier, mit minütlich sinkendem Mut, als einzige Frau unter älteren Männern und in ständiger Furcht, jemand könne sie ansehen oder gar ansprechen.
    »Jeder Tag kostet. Jeder Tag, an dem nicht weitergebaut werden kann. Das Ganze ist eine Katastrophe.« Die Debatte hatte sich erhitzt. Keine Ahnung, worum es ging.
    »Wir haben schon jetzt den Etat weit überschritten.« Der Redner spielte nervös mit seiner Brille. »Das alles hätte nie an die Öffentlichkeit gelangen dürfen.«
    »Und vor allem nicht zum Denkmalschutz«, murmelte jemand.
    »Wie wurde das Problem denn früher gelöst?« Anne spürte, wie dem jungen Redner die versammelte Verachtung der Eingeweihten entgegenschlug.
    »Wir hatten keins.« Der Ausschußvorsitzende kniff die Lippen zusammen.
    Im unbehaglichen Schweigen, das folgte, wäre Anne am liebsten unter die Tischplatte gesunken. Alle hatten, glaubte sie, vorwurfsvoll zu ihr hinübergesehen, bevor sie sich wieder auf ihre Hände konzentrierten, in Papieren blätterten, aus dem Fenster guckten. Aus irgendeinem Grunde fühlte sie sich schuldig – weil sie hier saß. Und nicht, worauf er auch über den

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