Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
Bremer fragte sich, woher er das wohl hatte. Wahrscheinlich aus dem Fernsehen, Erwins Draht zur Welt, einem Gerät mit Großbildschirm, dessen bläuliches Flackern jeden Tag ab dem späten Nachmittag aus dem Fenster mit den halb zugezogenen Gardinen drang.
    Plötzlich kam Bewegung in die Truppe vor ihm. Oben auf den Panzern öffneten sich Luken, aus denen Gestalten in Tarnanzügen sprangen, die Jeeps entließen ihre Insassen, und auch der junge Soldat vor ihnen tauchte erst unter und dann auf der Straße wieder auf, Erwin eine Art Gruß zuwinkend. Alle gingen zur Mitte der Kolonne, dorthin, wo der Friedhofsweg auf die Dorfstraße mündete und wo Pauls Haus stand. Er schob sein Fahrrad an Geländewagen und Kettenfahrzeugen vorbei nach Hause. Als er das Gartentor öffnete, lehnte sich Marianne aus dem Fenster über ihm, aus dem zwei braunweiße Kuhfelle hingen. Gute Hausfrauen lüfteten ihre Bettvorleger täglich.
    »Klein-Roda ist besetzt!« rief seine Nachbarin herunter.
    »Von den Guten oder von den Bösen?« brüllte er zurück.
    »Keine Ahnung, aber es ist wegen dem Manöver!«
    »Gibt’s Einquartierung?« fragte Paul. »Wird schon vergewaltigt und geplündert?«
    Marianne zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Wagen, der aus der Kolonne ausgeschert war und den Friedhofsweg zustellte. Bremer drehte sich um. Die Soldaten standen mit Eßgeschirr in der Hand Schlange vor dem, was er als Gulaschkanone interpretierte.
    »Und wie lange soll das noch gehen?«
    »Keine Ahnung. Hauptsache, sie lassen morgen früh den Milchwagen durch!«
    Beim Anblick eines Panzers, der direkt vor dem Zigarettenautomaten gegenüber seinem Haus zu stehen gekommen war, wurde es Paul warm ums Herz. Wenn das so weiterging, konnten nur noch Fußgänger expeditionsmäßig zum Zigarettenziehen gelangen. Und niemand kam an das Teil heran, um es neu zu bestücken. Seit Jahren schon träumte er von einem Vernichtungsschlag gegen den Apparat. Nicht, daß er etwas gegen Raucher hätte – jedenfalls nicht im Prinzip. Im Prinzip stand es jedem frei, sich so zu ruinieren, wie es ihm oder ihr am meisten Spaß machte.
    Ihn störte etwas anderes: erstens der ständige Autoverkehr – kein Raucher ging heute noch zu Fuß zum Stoff. Zweitens der Krach, den die Süchtigen verursachten, die oft minutenlang dagegen hämmern mußten, bevor das hinterhältige Gerät die Ware rausrückte. Und drittens und hauptsächlich die dadurch erzeugte Steigerung der Gier, die jeden Raucher das Päckchen an Ort und Stelle aufreißen ließ. Die Zellophanüberzieher, in die die Schachteln eingehüllt waren, landeten zu Bremers unendlichem Widerwillen in seinem Vorgarten. Mitten in den Rosen.
    Er segnete das Fahrzeug, von dem er annahm, daß es einen besonders wohlklingenden Namen trug, wie »Wiesel« oder »Puma«. Er kannte sich, was das betraf, nicht aus.
    »Wohl nich jedient, wa?« sagte er laut und schob sein Fahrrad durch das Gartentor.
    Dann ging er nach oben in sein Schlafzimmer und zog sich um. Er konnte sich kaum etwas Gemütlicheres vorstellen als Gartenzäune zu streichen und den Sicherheitskräften befreundeter Mächte beim Vorführen ihres schweren Geräts zuzusehen.
    In den nächsten zwei Stunden pflückte Bremer herbstlich gefärbte Blätter und von gegorenem Fallobst betrunkene Wespen von den frischlackierten Zaunteilen, die er zuvor abmontiert und eins nach dem anderen gesäubert und abgeschmirgelt hatte. Zuerst hatte er es schön gefunden, daß ihn dabei das Schluchzen Celine Dions begleitete, das von nebenan herüberschallte. »All by myself. Don’t wanna be all by myself.« Bei der dritten Wiederholung wurde er unruhig, vor allem, da sich an immer derselben Stelle eine dünne Mädchenstimme auf die gefährlich hohe Tonlage wagte, selten im Einklang mit der Sängerin.
    Das hatte man nun davon, daß die Nachbarn ihre Tochter ausgerechnet Carmen genannt hatten – ein Mädchen, das sich seit einigen Monaten überdies in jenem tragischen Zustand befand, in dem Teenager überall auf der Welt die Lieblings-CD wieder und wieder und mit großer Lautstärke auflegen und bei den besonders schmachtigen Stellen mitsingen.
    Bremer merkte, wie sein eh schon gering entwickeltes Verständnis für pubertäre Seelenzustände rapide gen Null absackte. Zumal er seit einiger Zeit den Verdacht hegte, daß die blonde Carmen mit der hübschen Zahnspange ihre altersspezifisch verwirrten Gefühle ausgerechnet auf ihn richtete. Sie stand auffällig oft am Gartenzaun. Sie lächelte ihn

Weitere Kostenlose Bücher