nichts als die wahrheit
europäischer Kunstwerke, die erst von den Nazis, dann von ihren siegreichen Gegnern in alle Winde verschleppt worden waren. Ein Großteil war nie wiedergefunden worden.
Vic wußte von diesem Projekt und hatte sich das gleich zunutze gemacht. »Jon«, hatte er begeistert ausgerufen, »bei diesem Thema fällt es gar nicht auf, wenn du noch ein paar ganz andere Nachforschungen anstellst!«
Zum Beispiel nach des Führers Waffe und anderen Absonderlichkeiten.
»Das Kolleg ist der ideale Ort für eine solche Arbeit.«
Die Frau nickte, als ob sie diese Auskunft für erschöpfend hielte. »Sind Sie nicht auch ein international bekannter Waffenexperte?«
»Das ist richtig.« Frei versuchte seine Verwunderung zu verbergen. Nicht viele wußten das.
Die kleine Person vor ihm sah ihn unverwandt an, mit einer seltsamen Intensität in den grauen Augen. »Warum sprechen Sie so gut Deutsch?«
Die Frage überraschte ihn – sie wirkte fast intim.
»Es ist meine Muttersprache.« Er verbesserte sich. »Es ist meine Großmuttersprache. Meine Großmutter war Deutsche.«
»Ah – so.« In ihren Blick legte sich jene Ernsthaftigkeit, die man in diesem Lande bei einer solchen Auskunft zu bekommen pflegte. »Ihre Großmutter war – Jüdin?«
»Stimmt.« Endlich schenkte die Kellnerin ihm nach. »Sie ist Jüdin.« Hilde wurde immer älter und immer weniger – aber in ihrem schmal gewordenen Körper steckte Lebenskraft für zwei. Deshalb hatte ihn gewundert, daß sie es mit einer kurzen, bestimmten Handbewegung zurückgewiesen hatte, ihn in Berlin zu besuchen. »Ich möchte mir in meinem Herzen alles so bewahren, wie es einmal war«, hatte sie schließlich gesagt.
Lilly Meier sah ihn immer noch an – kalkulierend, dachte er für einen Moment.
»Und was macht einen – Juden zum Waffenexperten?«
»Ich bin Amerikaner, Frau Meier«, sagte er, knapper und unhöflicher, als es eigentlich nötig war. »Und die sind bekanntlich allesamt Waffenfreaks.«
Sie lachte verlegen, und sofort tat sie ihm leid.
Denn woher sollte sie wissen, daß er nur nach den Nürnberger Rassegesetzen ein Jude war – nicht nach der jüdischen Abstammungslehre, auch nicht vor der jüdischen Glaubensgemeinschaft – und allenfalls, wenn es das denn gab, vor der Geschichte?
»Gehen Sie – diesem Hobby auch in Berlin nach?« Lilly Meier. hatte den Kopf gesenkt.
Frei blickte auf den schmalen, mit Steinen besetzten Kamm, mit dem sie ihre Haarmähne auf einer Seite festgesteckt hatte. Die Frage wunderte ihn. Wußte sie etwas? Das war eigentlich nicht möglich.
»Ich glaube nicht, daß ich dazu kommen werde.« Ihm fiel auf, wie steif seine Antwort ausgefallen war.
Sie hob den Kopf und sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Er sah Intelligenz in ihren Augen – aber da war auch noch etwas anderes, Undefinierbares. Zorn? Schmerz?
»Und – es macht Ihnen gar nichts aus? Berlin? Die Vergangenheit? Die Stadt der Täter?«
»Nein.« Jon sah mit Erleichterung, daß ihm vom Nachbartisch die Kristeva zuwinkte. »Ich bin an der Zukunft interessiert.«
»Ich verstehe«, murmelte Lilly Meier.
»Sie entschuldigen mich …?« Jon deutete auf den Nachbartisch.
»Aber natürlich!« Plötzlich strahlte sie ihn an. Und nur für einen kurzen Augenblick bildete er sich ein, sie blicke ihm nach, sie starre ihm ausgerechnet auf das rechte Bein, während er hinüberging zu den anderen.
Es gab ihm einen kleinen eifersüchtigen Stich, als er merkte, daß die Kristeva keine Augen für ihn hatte. Der Kerl, mit dem sie sprach, sah auch noch gut aus, ein schmaler, dunkelhaariger Typ in einem hervorragend sitzenden Anzug. Armani, nahm er an. Das, hatte er mittlerweile gelernt, bevorzugten deutsche Politiker – neben schweren Rotweinen und dicken Zigarren.
Sein Blick glitt hinüber zur Begleiterin des Mannes, der mit blitzenden Augen und elegant gestikulierenden Händen auf eine versonnen lächelnde Agneta Kristeva einredete. Die andere Frau war groß, blond und wirkte kühl – eigentlich nicht sein Typ, vielleicht, weil sie ein bißchen blaß aussah neben der dunklen Polin.
»Wissenschaft oder Politik?« fragte er sie, als ob er in Wirklichkeit »Geld oder Leben!« meinte.
Es mußte, dachte er später, ihr Grinsen gewesen sein, das ihn im Handumdrehen für sie einnahm. Die Blonde lachte so entspannt, als ob sie nichts und niemanden zu fürchten hätte, als ob es weit und breit keinen Grund gäbe, einen guten Eindruck zu machen oder kompetent und vernünftig zu wirken.
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