nichts als die wahrheit
die Schultern und ließ sie wieder fallen.
»So gut wie unser investigatives Wunderkind möchte ich es auch mal haben«, brummelte Jo und ließ die Tür geräuschvoll hinter sich zufallen.
Becker fuhr den Computer wieder hoch und klickte sich aus Zettels Notizbuch aus. Er hinterließ besser keine Spuren in fremden Rechnern. Dann verließ auch er Zettels Büro.
4
Der Geruch umhüllte ihn wie eine warme Wolke – es roch nach altem Holz und Kreide. Es mußte einfach so riechen an Orten wie diesen, in denen Bilder, Düfte und Geräusche der Vergangenheit wie in einem Konservenglas aufbewahrt zu sein schienen – für alle Zeiten. Jonathan Frei hatte den Duft von Bienenwachs in der Nase, mit dem das Parkett sicherlich getränkt war nach all den Jahren, stellte sich vor, wie Hunderte von Hosenböden über Jahrzehnte hinweg honigfarbenen Glanz ins Gestühl polierten, und meinte den Stock zu hören, mit dem der alte Virchow aufs Pult geschlagen haben mochte, bevor er seinen Studenten am Skelett eines preußischen Soldaten die Wunder der Anatomie demonstrierte.
Er nahm einen Schluck aus dem Glas. Seltsamer Ort für eine Feier unter dem verkrampften Motto »Wissenschaft meets Politik« – wobei die Sache mit der Wissenschaft noch angehen mochte. Er stand im wohl berühmtesten Hörsaal der Charité. »Extra für Rudolf Virchow gebaut«, hatte ihm Kollege Carl Vetter vorhin während der Rede irgendeines der einladenden Würdenträger zugeflüstert. Der Saal war seit dem Krieg Ruine, man hatte ihm später eine Betondecke verpaßt. Frei ließ den Blick nach oben gehen, hinweg über die aufsteigenden Reihen des Gestühls, über die Köpfe der Anwesenden. Der Raum und seine Geschichte waren faszinierend genug. Aber die meisten Menschen zog wahrscheinlich etwas anderes an – das Morbide, wie es in den unzähligen Gläsern mit medizinischen Präparaten an der Stirnseite des Saales vertreten war.
Er war die Reihe der eingeweckten menschlichen Körperteile abgegangen. Ihn hatte der Schädel eines Mannes am meisten beschäftigt, der, wie die Legende versicherte, im Preußisch-Dänischen Krieg einen glatten Durchschuß erlitten hatte. Schade, daß nicht dabei stand, ob der Mann Däne oder Preuße gewesen war. Als Däne dürfte ihn eine Kugel aus dem berühmten Zündnadelgewehr getroffen haben, mit dem Preußen im 19. Jahrhundert Schlacht um Schlacht gewann.
Wie revolutionär diese unhandliche, unbeholfene Waffe damals gewesen war, ein Hinterlader mit einem neuen Zündmechanismus, der die Feuergeschwindigkeit erhöhte! Natürlich war das nichts, verglichen mit der Effizienz moderner Waffen. Aber niemand sollte die alten Knarren unterschätzen. Selbst die noch älteren Musketen konnten eine ziemlich tödliche Wirkung entfalten, wenn man es richtig anstellte.
Frei sah plötzlich eine Schlachtanordnung aus dem 17. Jahrhundert vor sich: Zwei Heere einander gegenüber, Männer in ihren bunten Uniformen, die eine Art Menuett aufführten, das man ihnen in monatelangem Drill eingebleut hatte, genannt der spanische Kontremarsch. Um ein gleichmäßiges Feuer zu erreichen, schoß man versetzt: Nachdem die Soldaten in der ersten Reihe ihre Salve abgegeben hatten, traten sie einen Schritt nach hinten, knieten sich hin und luden nach, während nun die zweite Reihe vorn stand und feuerte. Eine ingeniöse europäische Erfindung aus dem 17. Jahrhundert, die wahrscheinlich niemanden hier in diesem Saal interessierte – außer ihn.
Er riß sich los von den Bildern einer untergegangenen Welt und blickte in die Runde. Die meisten anderen Gäste standen vor den »Monstra«, vor den mißgebildeten Föten, Paradestücke der Horrorshow. Frei hatte der Anblick der Embryos mit Fischschwanz oder mit zwei Köpfen merkwürdig berührt. Wir zählen die Neandertaler zu den Vorfahren der Menschen, weil sie ihre Toten begruben, dachte er. Die eingemachten kleinen Leichen waren schrecklich anzuschauen – vielleicht lachten die Frauen deshalb so laut, wenn sie sich mit dem Champagnerglas in der Hand über Wesen beugten, die nur ein Auge auf der Stirn trugen.
Oder war das nur der seltsame Effekt, den Schrecken haben kann, wenn er weit genug entfernt zu sein scheint? Schrecken beruhigt. Das Bild des Abweichenden bestätigt das Selbstbild. Warum sonst haben Menschen jahrhundertelang auf dem Jahrmarkt die Elefantenmenschen bestaunt und die siamesischen Zwillinge, die Frau ohne Unterleib oder die Kleinwüchsigen?
Sei froh, sagte sich Frei und nahm noch einen
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