nichts als die wahrheit
solchen Konflikten völlig frei zu sein. Vielleicht, weil sie so perfekt aussah wie eine Porzellanpuppe. Oder weil die gute liebe Mama früh genug abgelebt war. Karen vermutete mittlerweile das letztere.
»Entschuldigen Sie …« Der junge Mann, der auf den Stuhl neben ihr deutete, hatte rote Haare und rote Ohren. »Es ist kein anderer mehr frei.«
»Kein Problem.« Karen lächelte ihn an, als ob sie Größe 38 trüge und räumte den Stuhl von all den Tüten und Taschen, die sie daraufgestellt hatte. Wenigstens am Samstag war sie endlich zum Einkaufen gekommen.
Marion sah erst auf den jungen Mann, dann auf sie und grinste.
»Ich bin doch keine Kinderschänderin!« antwortete Karen mit gespielter Empörung. Die unbedachte Formulierung versetzte ihr einen Stich. Sie hatte Wenzel versprochen, sich um den Fall Bunge zu kümmern, hatte aber seit dem Gespräch mit der Manning keinen Handschlag getan.
Marion gähnte und betrachtete ihre Fingernägel – seltsamerweise nicht, wie es Frauen sonst tun, nämlich mit ausgestreckter Hand, Rücken nach oben, sondern nach Männerart, die Hände zu Fäusten geballt. Marion war der wandelnde Widerspruch – denn von solchen Gesten (und von ihrem Beruf) abgesehen, war sie aufreizend weiblich. Heute trug sie ein aprikotfarbenes Kostüm mit wadenlangem Rock und einer taillierten Jacke, auf dem Kopf ein Etwas, das eher Haarschmuck war als Hut.
Sie blickte auf und lächelte.
Karen grinste zurück. »Du mußt gehen. Du kommst sonst zu spät.«
Marion gähnte wieder. »Eine Dame kommt nie zu spät.«
Karen beneidete sie um ihre Gelassenheit – und wahrscheinlich, fürchtete sie plötzlich, auch um den Mann, dessen sie so sicher war, daß sie ihn warten lassen konnte. Während Karen auch in dem neuen Bett allein liegen würde, dessen Lieferung seit Wochen ausstand.
»Mein Bett ist übrigens immer noch nicht geliefert worden«, sagte sie. »Dienstleistungswüste Deutschland!«
»Und wieso denkst du am hellen lichten Tag bereits ans Bett?« Marion lächelte schläfrig.
»Weil du es tust.« Karen merkte, wie die schlechte Laune ihr auf den Magen schlug. Zwei alleinstehende Frauen, die das im Grunde nicht bleiben wollten – das mochte noch angehen. Aber seit Marion einen Neuen hatte, spielte Karen die Rolle des beweglichen und aufgeklärten städtischen Singles völlig solo.
Marion runzelte die Stirn und schien sie dann mit geschärfter Aufmerksamkeit anzusehen. »Du bist nicht unzufrieden mit deiner Figur. Du hast nicht den geringsten Grund dazu. Du ärgerst dich auch nicht ernsthaft über deine Mutter. Du bist unzufrieden mit dir selbst.«
Karen wechselte in den Gesichtsausdruck über, der »Ach – jaaa?« signalisierte.
»Du beschäftigst dich seit Wochen nur noch mit Gardinen, Bettwäsche, Kleinmöbeln und Rheumamatratzen. Du klagst seit Monaten über deine Mutter, als ob du noch ein Teenager wärst. Du magst dich selber nicht mehr. Du gehst nicht aus. Du interessierst dich nicht mehr für deinen Beruf. Du …«
»Mein Beruf ist das einzige, wofür ich mich überhaupt noch interessiere.« Der Satz war heraus, bevor sie ihn hätte zensieren können.
Marion guckte, als ob sie am liebsten »Siehste!« sagen würde.
Karen guckte trotzig zurück.
»Was ist los mit dir?« fragte die Freundin nach einer Weile leise.
Karen antwortete nicht. Zu ihrer Verwunderung merkte sie, daß ihr nach Tränen zumute war. Der Gedanke an die neue Bettwäsche, die sie vorhin endlich gekauft hatte, freute sie nicht mehr. Und die Vorstellung, schon bald in eine leere Wohnung zurückzukehren, war plötzlich schrecklich.
Was ist los? Gute Frage, dachte Karen. Vielleicht war es die Midlife-crisis. Vielleicht das prämenstruelle Syndrom, auf Dauer gestellt. Vielleicht gab es einen Wetterumschwung – sie krauste die Nase und blickte gen Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen. Vielleicht – war es wirklich nur die Tatsache, daß Marion nicht mehr allein war.
Aber sollte sie ihr das etwa sagen? Daß es ihr lieber war, zu zweit frustriert durch die Gegend zu laufen, als die andere glücklich zu sehen? Sie lächelte ihre beste Freundin matt an.
»Ich hab es satt, allein zu sein.«
»Ich weiß«, sagte Marion. Der jäh aufkommende Wind hätte ihr fast den Hut von den Haaren geweht.
Karen spürte, wie sehr sie die Freundin schon jetzt vermißte, die künftig nicht mehr mit ihr, sondern mit einem Mann in den Urlaub fahren würde. Sie bestellte die Rechnung. Nein, sie mochte sich momentan wirklich nicht
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