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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Schluck aus dem Glas, daß du nur ein weitgehend unauffälliger Krüppel bist. Sei froh, daß du nicht dreißig Steine in der Niere hast, wie das arme Schwein, das daran gestorben ist – an dem, was nun als einziges von ihm übrig ist: in einem großen, gemütlichen Einmachglas.
    Er drehte eine Runde durch den Saal, nickte hierhin, grüßte dorthin.
    »Furchtbar«, sagte eine Frau neben ihm und nahm hastig einen Zug aus ihrer Zigarette. »Stell dir vor, es hätte gelebt …« Sie stand vor einem Fötus, der, wie die Göttin Kali, nicht zwei, sondern jeweils vier Arme und Beine hatte.
    »Wieso eigentlich? Ich könnte öfter mal mehr als zwei Hände gebrauchen.« Der Mann neben ihr lachte laut auf und legte ihr seine Pranke auf die Schulter.
    »Aber heute wird so was ja vorzeitig abgetrieben.«
    Die Frau schien ein bißchen kleiner und ein bißchen schmaler zu werden. Sie schüttelte den Kopf und wand sich dann aus der Umarmung ihres Begleiters heraus.
    Frei ging weiter. Vom großen Thema des Abends – »Wissenschaft meets Politik« – war nicht viel zu merken, abgesehen davon, daß fast alle Stipendiaten des Kollegs erschienen waren. Sein elegant gekleideter Direktor redete auf einen kleinen, rundlichen Mann ein, unter dessen gebräunter Glatze zwei rastlose Knopfaugen den Raum abtasteten. Politiker oder Wissenschaftler? Politiker, dachte Frei. Nur Politiker strahlen diese nervöse Unruhe aus, die anzeigt, daß sie fürchten, sie könnten nicht rechtzeitig wahrnehmen, daß sie wahrgenommen werden.
    Wissenschaftler hingegen sind gemeinhin so absorbiert von sich und der Bedeutung ihrer Tätigkeit, daß sie für nichts Augen haben, noch nicht einmal für das arme Opfer, das sich gerade ihre neuesten Hypothesen anhören muß.
    »Haben Sie vielleicht …?« Die große, dunkelhaarige Frau hatte eine Zigarette zwischen den Lippen und den halben Inhalt ihrer Handtasche auf einem der weißgedeckten Bistrotischchen ausgebreitet – eine Illustrierte, zwei Päckchen Marlboro, einen Notizblock, einen umfangreichen Schlüsselbund, ein Diktiergerät, einen dicken Füllfederhalter, einen aus den Nähten platzenden Terminkalender und einen Lippenstift.
    Jonathan zuckte mit den Schultern. »Leider nein.«
    »… ein Tempotaschentuch?« Die Frau lachte ihn an.
    Sie hatte das Feuerzeug gefunden, hielt die Flamme an die Zigarette und inhalierte tief. Sie mußte gemerkt haben, daß er die Nase gekräuselt hatte.
    Er grinste zurück. Es fiel ihm noch immer schwer, sich daran zu gewöhnen, daß so viele Menschen auf dem Kontinent rauchten.
    Die Dunkelhaarige schickte ihm einen spöttischen Blick und einen Schwall Zigarettenrauch hinüber. Sie hatte eine physische Präsenz, die so signalrot war wie ihre Jacke. Fasziniert sah er zu, wie sie den ganzen Krempel auf dem Tisch wieder in ihre Handtasche schaufelte, sie unter den Arm klemmte und auf hohen Absätzen zu einer Gruppe von Männern am Ende des Saales stöckelte.
    »Professor Frei?« die Stimme hinter ihm war so leise, daß er sie erst gar nicht wahrnahm. Jonathan drehte sich um.
    Das auffälligste an der kleinen Person war die fast altmodisch anmutende Lockenfrisur, die nicht richtig paßte zu der knabenhaften Figur und dem ungeschminkten Gesicht. Sie sah ein bißchen wie ein unversehens in die Jahre gekommener Rauschgoldengel aus.
    »Lilly E. Meier vom ›Journal‹.« Sie streckte ihm die Hand hin, die andere hatte sie in die Tasche ihres Jacketts versenkt. »Sie kennen vielleicht die Zeitung? Die Hauptstadtzeitung? Wir haben ein bißchen die Meinungsführerschaft hier …«
    »Herzlichen Glückwunsch.« Er grinste und neigte den Kopf. Unter all der Bescheidenheit verbarg sich offenbar ein ausgeprägtes Ego. Immerhin lächelte die Frau, wenn auch etwas säuerlich, zurück.
    »Sie sind« – Lilly E. Meier hatte beide Hände wieder in den Jackentaschen versenkt – »eine sehr angesehene Persönlichkeit …«
    Jonathan Frei neigte wieder den Kopf. Wenn sie meinte.
    »… sonst hätte man Sie nicht ins Kolleg eingeladen.«
    Frei drehte sein leeres Glas in der Hand und guckte suchend durch den Raum.
    »Womit beschäftigen Sie sich – während Ihres Aufenthalts in Berlin?« Sie hatte etwas Indiskretes im Blick. Frei merkte verwundert, daß ihm das Gespräch unangenehm war.
    »Ich werde die Arbeit an einem Buch beenden.« Endlich hatte eine der Kellnerinnen ihn gesehen. »Über die sogenannte Beutekunst.« In dem fast fertigen Manuskript ging es um das Schicksal bedeutender

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