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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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sehr.
    »Was macht eigentlich Paul?« Marion schien einen Gedankengang zu verfolgen, den Karen ihr schon seit Jahren auszutreiben versuchte.
    »Na was wohl? Er sitzt auf dem Land …«
    »… und verbauert.«
    Am liebsten hätte sie ihn gegen diesen ungerechten Vorwurf verteidigt. Aber genau das war Gegenstand des letzten Streits mit ihm gewesen. »Du ziehst dich zurück, Paul«, hatte sie ihm vorgeworfen. »Du wirst zum Eigenbrötler.« Es war, fiel ihr auf, so ziemlich das, was Marion an ihr kritisierte.
    Paul hatte den Vorwurf richtig übel genommen – und ihr erst nach ein paar Tagen gestanden, warum. Sie strich die dicke rote Haarsträhne zurück, die der Wind ihr ins Gesicht geblasen hatte. Anne Burau hatte ihm offenbar das gleiche vorgeworfen – Anne, die jetzt im Bundestag war. Als Nachrückerin.
    Karen setzte sich abrupt auf. Als Nachrückerin von Alexander Bunge. Daß ihr das nicht gleich aufgefallen war …
    Als das Mobiltelefon quäkte, durchwühlte sie hektisch ihre Handtasche. Das Gerät blinkte aufgeregt, als sie es endlich gefunden hatte.
    »Ja?«
    Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Das Telefon war bis vor einer halben Stunde ausgeschaltet gewesen. Vielleicht hatte ja Paul versucht, sie zu erreichen.
    »Karen?«
    Sie verzog das Gesicht. Manfred Wenzel war seit ihrem letzten Gespräch zur hanseatischen Form der Kombination von Vorname und Sie übergegangen. Manchmal wünschte sie sich seine alte Arroganz zurück.
    »Ich hab’ Sie schon heute früh zu erreichen versucht.«
    War das etwa ein Vorwurf in seiner Stimme? Karen antwortete vorsichtshalber nicht.
    »Es gibt was Neues im Fall Bunge.«
    »Ich bin noch nicht …«
    »Macht nichts.« Ausnahmsweise erwies er sich als nicht interessiert an ihrem schlechten Gewissen.
    »Im Büro ist heute ein Fax eingetroffen.«
    Streber, dachte Karen. Was machte der Mann an einem Samstag im Büro, ohne daß er im Dienstplan stand?
    »Darin wird behauptet, daß das ›Journal‹ über keinerlei Beweismittel für die Anschuldigung gegen Bunge verfüge.« Sie hörte die Zufriedenheit in seiner Stimme.
    »Aber warum hat sich Bunge dann umgebracht?«
    »Eben!« Wenzel hatte wieder die alte Ungeduld in der Stimme. »Wenn Sie nach Berlin fahren, morgen …«
    Sie freute sich seit Wochen auf die paar Tage in Berlin. Und sie hatte keine Lust, die wenigen Stunden Freizeit, die sie sich während der Tagung nehmen wollte, an Wenzel und seinen Exlover abzutreten.
    »Ich kümmere mich drum«, sagte sie so gelassen wie möglich. Sie drückte die Aus-Taste.
    »Du klingst nicht gerade begeistert – für jemanden, dem sein Beruf so viel bedeutet.« Marion hatte sich während des Gesprächs die Lippen nachgezogen und steckte den Lippenstift in der krokoledernen Hülle wieder in ihre Handtasche.
    »Ich hatte mich gefreut auf die Tagung in Berlin.« Das Thema war »Kriminalistik und Öffentlichkeit«. Es referierten ein paar interessante Frauen – und ein paar nicht minder interessante Männer. »Und jetzt muß ich mich auf die Spuren des toten schwulen Freundes meines schwulen Kollegen begeben.«
    »Schwule sind angeblich auch Menschen.« Marion guckte sie mit kritischem Spott an. »Sogar im toten Zustand.«
    »Hab’ ich auch gehört. Aber Liebhaber von Kinderpornographie und andere Päderasten sind nicht mein Fall.«
    Marion zog fragend die Augenbrauen hoch.
    »Aber vielleicht ist er ja gar keiner.« Karen trank ihren Milchkaffee aus und setzte die Tasse unsanft ab. Danach sah es offenbar aus.
    Warum bloß sagte ihr Gefühl ihr etwas anderes?

7
    Berlin
     
    Anne wachte erst gegen Mittag auf. Das erste Mal seit Jahren hatte sie verschlafen. Es war so still hier oben. Keine Kuh muhte, kein Schaf blökte. Keine Rena, kein Krysztof. Keine wildgewordenen Gänse und röhrenden Traktoren. In einer Millionenstadt konnte man einsamer sein als in einem gottverdammten Kuhkaff. Das mochte ja ein Klischee sein – aber es war die schlichte Wahrheit.
    Besonders hier, in der sogenannten »Serpentine«, in der sie ihre Abgeordnetenwohnung gemietet hatte. Der gigantische Wohnblock kam ihr am hellen Tag noch gespenstischer vor als an den Abenden zuvor. Es war Samstag – also war sie wahrscheinlich wirklich die einzige Anwesende in dem wie eine Welle geschwungenen Band von Wohnungen. Insgesamt siebenhundert Wohnungen waren im Moabiter Werder gebaut worden, auf einer Art Halbinsel in einem Bogen, den die Spree hier beschrieb – »ein gelb verklinkertes Auffanglager für heimatvertriebene

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