nichts als die wahrheit
die Kochnische, eine hochmoderne, chromblitzende Angelegenheit, in der sich nun die Einmachgläser mit den roten Paprika, gelben Kürbissen und grünen Gurken stapelten. Am Handtuchhalter und von der Dunstabzugshaube herab hingen die Würste. Der Anblick war zum Lachen und zum Weinen zugleich.
Es erinnerte Anne an damals, an die Reisen an die Ostsee, an das jährliche Ritual mit ihren Eltern, als Vater noch lebte. Ihre Mutter hatte immer Tage zuvor mit dem Packen begonnen, hatte seufzend und vor sich hin murmelnd Eingemachtes in mit Leinentüchern ausgelegte geflochtene Körbe gelegt, Würste, Käse, das selbstgebackene Brot, sogar Kerzen.
»Bevor wir uns ärgern«, pflegte sie dazu zu sagen. Oder: »Damit es später keine Klagen gibt.«
Anne hatte sich mit dem Trotz und der Sehnsucht aller Kinder einen Urlaub mit Eis, Bratwurst und Pommes gewünscht. Aber das war ebensowenig erlaubt gewesen wie Fernsehen und »Micky-Maus«-Hefte.
Sie holte eine Flasche Wein aus dem vollgestopften Kühlschrank und suchte in einer der vielen Schubladen nach einem Korkenzieher. Ihre Wut auf Zettel war verraucht. Daß er sich nicht meldete – nun, wahrscheinlich arbeitete er gerade an irgendeiner Sache, die ein Journalist für heiß hielt. Daß nicht er, sondern Lilly E. Meier sie porträtieren sollte – sicher war das ein Irrtum, und der ließ sich korrigieren. Daß das »Journal« gehässig über sie berichtete und sogar die alten Geschichten aufwärmte, nicht ohne sie in eine Richtung zu wenden, die sie als Täterin, nicht als Opfer erscheinen ließ – das mußte nicht auf Zettels Mist gewachsen sein. Vielleicht hätte er es sogar verhindert, wenn er rechtzeitig davon erfahren hätte?
Nach dem zweiten Glas war sie davon überzeugt, daß er nicht der Schurke im Spiel war, sondern der einzig denkbare Retter in der Not. Entschlossen griff sie zum Telefon. Wieder hörte sie seine Stimme vom Anrufbeantworter. Diesmal folgte sie der Aufforderung, nach dem Signalton zu sprechen.
»Peter, hier ist Anne«, hörte sie sich sagen. »Es ist Samstag nachmittag. Melde dich.«
Sie nannte ihre Telefonnummer. Sagte, nach einer Pause: »Ich muß dich sehen.« Und stellte mit Unbehagen fest, daß sie verzagt klang.
Nach dem dritten Glas zog sie sich bequeme Schuhe und ihre Windjacke an und verließ den leergefegten Appartementblock. Plötzlich erklärte sie Zettels Schweigen nicht mehr mit seiner Abwesenheit. Plötzlich machte sie sich Sorgen um ihn. Das jedenfalls redete sie sich in der S-Bahn bis zum Alexanderplatz ein. Und in der U-Bahn, auf der Strecke zum Senefelder Platz, glaubte sie zu wissen, daß etwas passiert war.
Ein warmer Spätsommernachmittag empfing sie, als sie aus dem U-Bahnhof emporstieg zur Schönhauser Allee. Um so überraschender war der kühle Lufthauch, der ein paar Schritte weiter zu ihr herüberwehte. Hinter Mauer und Gitterzaun, unter Bäumen und Efeuranken verborgen lag – kein Park, sondern ein alter Friedhof. Ein jüdischer Friedhof – durch das Gitter des mit einer Kette fest verrammelten Tors konnte sie Grabsteine erkennen und Namen entziffern wie Aronson und Rosen und Loewe. Die morbide Schönheit dieses verwunschenen Ortes stimmte sie noch melancholischer.
An milden Septembertagen wie diesem hatte sie in einem früheren Leben auf der Terrasse gesessen. Mit Rena, mit Otto Grün, mit Paul Bremer, wenn er zu Besuch kam. Oder sie hatte das Pferd gesattelt und war ausgeritten.
Wie leicht ihr das all die Jahre gefallen war, was sie anderen gegenüber spöttisch Verbauern genannt hatte! Und wie idiotisch es ihr plötzlich vorkam, etwas anderes zu wollen. Wem mußte sie eigentlich noch etwas beweisen? Sich selbst?
Anne stopfte die Hände noch tiefer in die Jackentaschen und beschleunigte ihren Schritt.
Das Haus in der Kollwitzstraße war kein Plattenbau, wie sie befürchtet hatte, aber auch keine frisch renovierte, solvente Mieter herausfordernde Villa, sondern ein Mietshaus aus der Gründerzeit mit verwitterter Fassade. Dort, wo der Putz abgefallen war, fast überall also, schimmerten blaßrot die angeschlagenen Klinkersteine. Gerade mal den Schatten sah man von Stuck und Schnörkel, die die Fassade einmal geziert haben mußten. Nur über den Fenstern des Erdgeschosses schwebten Engelsköpfe mit bröckelnden Locken und abgeschlagenen Nasen inmitten von Wein- und Rosenranken, daneben, damit alle ihr Recht bekamen, Teufelsfratzen. Von den Fenstern der oberen Etagen blätterte die Farbe; je höher das Auge kam,
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