nichts als die wahrheit
Rheinländer« hatte sie mal in einer Zeitung gelesen. Die aber wollten offenbar nicht ins Lager – gerade mal gut hundert Wohnungen waren vermietet. Die meisten der Abgeordneten und Mitarbeiter des von Bonn nach Berlin umgezogenen Bundestags hatten eine Altbauwohnung in einem Berliner Kiez vorgezogen.
Nach dem Frühstück ging sie einkaufen, nur eben um die Ecke, zu einem kleinen Supermarkt. Als sie zurückkehrte, tauchte sie in eine Wolke vertrauter Gerüche ein, die nicht paßten in diese Umgebung, in der es gestern noch nach frischer Farbe und Putzmittel gerochen hatte. Seither überlagerte der Duft von Knoblauch und Geräuchertem alles.
Auch der Portier, ein freundlicher, berlinernder Schnauzbart mit polnischem Namen, der sie schon bei der zweiten Begegnung wie eine alte Freundin begrüßt hatte – Kunststück, es wohnte ja sonst kaum jemand hier –, hatte die Nase gerümpft, als er ihr das schwere Paket hochtrug. Ein Freßpaket von Rena, in dem alles steckte, was sonst fürsorgliche Mütter ihren Töchtern in die erste eigene Studentenbude mitgeben – zum Beispiel die luftgetrocknete Lammsalami, deren Geruch die kleine Wohnung erfüllte. Als ob man ohne das in Berlin verhungern würde.
Und jetzt saß sie das erste Mal, seit sie hier angekommen war, in Ruhe in ihrer Wohnung. Zeit zum Nachdenken, dachte sie. Wenn sie nur nachdenken wollte.
Sie fürchtete sich vor dem Gedanken, fehl am Platz zu sein in Berlin, im Parlament, in der Fraktion, in ihrer Partei. Die Erinnerung an die abgewandten Gesichter der Kollegen, an das Getuschel hinter ihrem Rücken, an den bösartigen Zeitungsartikel, an die Zang mit ihren Heimlichtuereien, an Peter verfolgte sie. Und zugleich ärgerte sie sich über diese neue Bänglichkeit.
Hatte sie das Kämpfen doch verlernt? Stand sie nur noch in Gummistiefeln fest und mit beiden Beinen auf dem Boden?
Um sich abzulenken, dachte sie an den Mann von gestern abend. Eigentlich hatte er ihr gefallen – die tiefe Stimme mit der amerikanischen Klangfärbung, die Ironie in den braunen Augen, die Kraft, die der Mann ausstrahlte. »Jonathan« hatte sein Freund ihn genannt. Andererseits hatte sie wenig Lust gehabt, den beiden dabei zuzusehen, wie sie einander unaufhörlich auf die Schultern klopften und »Alter Junge!« nannten.
Auch Emre Özbay war beschäftigt gewesen. Er schien völlig gefangen zu sein von einer Frau, die sich alle Mühe der Welt gab, unscheinbar zu wirken – mit den kurzen Haarstoppeln und der dunklen, kastenförmigen Brille auf der Nase. Die Verkleidung nützte nicht viel.
Anne hatte sich eingeredet, daß ihr das alles nichts ausmachte, noch eine Runde gedreht durch den Hörsaal mit den seltsamen Erscheinungen in ihren Glassärgen und die Veranstaltung schließlich verlassen. Sie hatte es nicht weit gehabt bis nach Hause. Und kaum war die Tür zu ihrem Appartement hinter ihr zugefallen, hatte sie sich ausgezogen, ins Bett gelegt und war eingeschlafen.
Seufzend stand sie auf und öffnete das Fenster so weit wie möglich. Noch nicht einmal einen Balkon hatten die Wohnungen – wozu auch? Abgeordnete sollten schließlich tags arbeiten und nachts schlafen. Wenigstens konnte man von hier oben die nackte Betonmauer nicht sehen, mit der sensible Sicherheitsarchitekten das neue Bundeskanzleramt gleich nebenan verbarrikadiert hatten. Statt dessen gab es einen ungestörten Blick über die Spree und das von herbstlichen Goldtönen durchwebte Grün des Tiergartens hinaus zur Reichstagskuppel und zum Potsdamer Platz.
Unwillkürlich gingen ihre Augen in die Himmelsrichtung, in der sie den Stadtteil vermutete, in dem Zettel wohnte. Sie hatte seine Straße während der langweiligen Debatte gestern abend auf dem Stadtplan gesucht. Er residierte, wie es sich für einen Journalisten mit der Hand am Puls der Zeit gehörte, am Prenzlauer Berg. In einem alten, heruntergekommenen Berliner Haus, wie sie es aus den Zeiten kannte, in denen sie in Ostberlin ein häufiger Gast gewesen war?
Die Erinnerung an damals – und an Leo, den Mann mit dem langen Bart und den sentimentalen Liedern – überfiel sie mit einem ziehenden Schmerz irgendwo in der Nähe des Herzens. So fühlt sich die Sehnsucht nach einer untergegangenen Welt an, dachte sie. Aber die war nicht deshalb die bessere gewesen, weil damals alles so einfach schien. Und so unschuldig.
Oder wohnte Peter Zettel mit der Ostalgie, wie sie gerade Westdeutsche kultivierten, in einem Plattenhochhaus, einst Stolz der DDR?
Anne ging in
Weitere Kostenlose Bücher