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nichts als die wahrheit

nichts als die wahrheit

Titel: nichts als die wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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desto eher traf es auf nackten Klinker.
    Links und rechts des Haupteingangs befanden sich Läden – von der Art, wie sie zum Flair des Prenzlauer Bergs gerechnet wurden. Der eine gleich links hatte die Rolladen heruntergelassen, vor der Tür befand sich ein bizarres Eisengitter, das als Schmuck und Schutz zugleich zu dienen schien. Noch weiter links leuchtete die Türeinfassung mittelmeerblau. Aus dem Laden namens »Elixier« roch es nach Sandelholz und Vanille, ein Duft, der Esoteriker und Ausgeflippte aller Kulturen und Zeiten beim Eintauchen in eine andere Wirklichkeit zu begleiten schien.
    Fast hätte Anne leise aufgejuchzt. Rechts vom Hauseingang stand, erbsengrün, mit auberginefarbenem Sitzpolster und einem Rückspiegel wie ein wachsames Fuchsohr, eine »Schwalbe«, der Traum jedes Ostnostalgikers, der Motorroller aus DDR-Zeiten. Plötzlich hatte sie ein verdächtiges Brennen in den Augen. Bloß nicht heulen …
    Auf dem Sozius einer »Schwalbe« war sie einmal, an einem Augustnachmittag, unendlich lange schien das her, mit Leo an den Müggelsee gefahren.
    Sie schüttelte den Kopf. Demnächst würde sie wahrscheinlich schon beim Geruch von Zweitaktergemisch in Tränen ausbrechen. Sie legte alle verfügbare Haltung in den Schritt, mit dem sie auf das Haus zuging. Sonst glaubte Peter Zettel noch, ausgerechnet der Gedanke an ihn hätte ihr die Tränen in die Augen getrieben.
    Im Hauseingang wehte ihr der Duft von Schimmelpilz und fünfzig Jahren Vernachlässigung entgegen. Hinter der Kassettentür mit den abblätternden dunklen Farbanstrichen und den ovalen Fenstern lag eine Einfahrt, gerade breit genug für einen kleinen Lieferwagen. Runde Säulen mit Kapitellen, auch sie angeschlagen und blaß geworden, flankierten das Treppenhaus nach oben. Von der Wand im Flur löste sich der Putz in dicken Placken. Die Nachrichten der Hausverwaltung hingen neben je einem verbeulten und einem nagelneuen Briefkasten, auf dem in Handschrift »Keine Reklame reinschmeißen!« stand.
    Am Klingelbrett waren Namen wie Nuschke, Roedinger, Zilowski und Öcekinzi zu lesen. Hier wohnte Peter Zettel offenbar nicht. Zögernd ging sie durch den Flur, dem Hintereingang entgegen.
    Im Hof hinter der Glastür parkten zwei Autos, an einer vor Jahren einmal dunkelrot gestrichenen Hoftür rechts von ihr war »Rhenania« zu lesen, ordentlich in altertümlich wirkender Schreibschrift geschrieben. Die Breite des Hofes nahm ein Werkstattgebäude aus der Gründerzeit ein, unverputzt, aus gelben und roten Klinkern, auf dem noch die Schriftzüge »Werner Engelmann. Großhandel« zu erkennen waren. Die Werkstattfenster waren vergittert, als sie näher trat, sah sie durchs Fenster rechts in einen Raum voller alter Motorräder – nicht nur eine, nein, viele »Schwalben« hatten hier Asyl gefunden.
    Anne sah sich um. Links hinter dem Haus beugte sich eine Kastanie über die Traufe, im Hof hatte sich ein Holunder durchs Pflaster gekämpft. Das Katzenkopfpflaster war an mehreren Stellen mit Beton geflickt, und die Fassade konnte eine Reinigung gebrauchen. Hier stand die Zeit still.
    Trotzdem, dachte sie plötzlich, würde sie lieber hier leben als in ihrem sterilen Abgeordnetenappartement. Alle wollten in Berlin anders leben – romantischer, pittoresker, mit Hauptstadtfeeling oder wenigstens mit Vergangenheit.
    Anne ging zur breiten, vergitterten Werkstattür. Sie drückte auf die Klingel, neben der ein Papierschild klebte, auf dem sie ein »R Zettel« auszumachen glaubte. Drinnen erklang ein unmelodiöses Scheppern. Dann Stille. Dann hörte sie das Geräusch langsam näher kommen.
    Erst traute sie ihren Ohren nicht. Es war ein matter, schwacher Laut – eine Art Winseln. Sie spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Es war also tatsächlich etwas passiert.
    Sie klingelte noch einmal, voller Vorahnung und ungeduldiger diesmal. Das Winseln ging in ein Kläffen und dann in ein leises Heulen über. In Panik klingelte sie wieder. Und wieder.
    Ihre Angst schien sich dem Tier mitzuteilen, das sich hinter der Haustür befand. Und von Peter Zettel fehlte jedes Lebenszeichen. Nach einer Weile setzte sie sich auf die Treppenstufen und redete auf den Hund hinter der Haustür ein, der sie durch die Türritzen zu erschnüffeln versuchte. »Ist ja gut«, sagte sie. »Ist ja gut.« Nichts war gut. Sie dachte an einen kräftigen Tritt gegen die Tür. An die Polizei. An die Nachbarn.
    Bis sie ihr wieder einfiel, die Szene aus Bonn, in der Wahlnacht, als sie mit Zettel vor

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