nichts als die wahrheit
Schrecken nicht, der im Regierungsviertel Berlins versammelt war. Vom Checkpoint Charlie über die Reste des Prinz-Albrecht-Palais, in dem die Gestapo ihr Hauptquartier unterhalten hatte, bis hin zum Bendlerblock, heute wie unter dem Kaiserreich und den Nazis Sitz des Verteidigungsministeriums, in dessen Hof Graf Stauffenberg nach dem mißglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 erschossen worden war – alles sprach von Tod und Verhängnis. Und so heiter es auch klang, wenn die junge Frau die Namen der Ministerien herunterbetete, die einst die Wilhelmstraße säumten, wie komisch es auch anmutete, das Wort »Reichskanzlei« gelispelt zu hören – es minderte die Depression nicht, die sich über Anne senkte. Als der Bus am ehemaligen Standort der von Hitlers Architekten Speer erbauten Neuen Reichskanzlei in der Voßstraße hielt, mochte sie nicht mehr zuhören. Bei den Worten »Und unter diesem Rasenstück dort drüben liegen die Reste des Führerbunkers« verließ sie den Bus.
Am Zaun um den vergilbten Rasenplatz stand eine Gruppe junger Leute um einen auch nicht viel älteren Mann in Pudelmütze herum, dessen ausgreifende Armbewegungen ihn als einen weiteren der vielen Studenten auswiesen, die in Berlin mit Stadtführungen ihr Geld verdienten.
»Das ganze Regierungsviertel war verbunkert«, sagte der Mann gerade – ein Student im achten Semester, schätzte Anne. »Man konnte kilometerweit gehen, unter der Erde.«
»Hier?« Ein vielleicht Siebzehn- oder Achtzehnjähriger in Bomberjacke zeigte unter sich und dann in die Runde. »Überall?«
Der Mann mit der Mütze nickte. »Alles unterkellert – die Reichskanzlei. Das Luftfahrtministerium. Von manchen Bunkeranlagen gibt es keine Pläne mehr. Man weiß also nicht, wo sie anfangen und wo sie enden – bis sich plötzlich die Erde auftut …«
Eine Mädchen in Leggins und Buffalos starrte den Studenten mit offenem Mund an. »Sie meinen – einen Geheimeingang?«
Der lachte. »Nein. Einen Bagger.«
»Aber der Führerbunker existiert doch noch?« Der Junge in der Bomberjacke leckte sich nervös die Unterlippe.
»Wir stehen fast drauf.«
»Kann man da noch rein?« Die Buffaloträgerin fragte in aller Unschuld. Der Mann mit der Pudelmütze schien diese Frage gewohnt.
»Keine Chance. Die Russen haben 1945 versucht, die Betonplatte zu sprengen, und in der DDR hat man alle Eingänge zugeschüttet und Gras darüber wachsen lassen. Man wollte keine Pilgerfahrten zu Hitlers Todesstätte.«
Anne starrte auf das unauffällige Fleckchen Erde, auf die Kanaldeckel und Bodenplatten, die das Rasengrün ab und an unterbrachen. Keine Ahnung, warum ihr plötzlich Lenchen Frenkel einfiel.
Oder vielmehr die Geschichte von Lenchen Frenkel, wie ihre Mutter sie erzählt hatte, als sie wieder einmal die weißen Damasttücher aus der Truhe nahm, sie auseinanderfaltete, nach gelben Stellen oder Mottenschäden untersuchte, einige sorgfältig wieder zusammenlegte und wegpackte und andere zur Wäsche gab. Anne hatte das Ritual mitverfolgt, seit sie ein kleines Kind war. Bis sie eines Tages fragte, warum die schönen weißen Tücher nie auf dem dunklen Eßtisch lagen, bei Familienfesten, zu Ostern oder zu Weihnachten.
»Weil sie Lenchen Frenkel gehören«, hatte ihre Mutter auf die übliche kurz angebundene Art geantwortet. Erst viel später wagte Anne zu fragen, wer Lenchen Frenkel war.
»Sie war unsere Nachbarin, damals in Posen.« Mutter hatte eines der weißen Tücher auseinandergefaltet. »Eines Abends kam sie zu uns, es war Winter. ›Heb sie für mich auf, Erika‹, hat sie gesagt.« Ihre Mutter glättete das steife Leinen, als ob sie es streicheln wollte.
»Und warum hat sie die Tücher noch nicht abgeholt?«
»Wer weiß?« Ihre Mutter hatte ins Leere geblickt. »Es ist ja noch nicht aller Tage Abend.«
Hatte sie wirklich geglaubt, Lenchen Frenkel würde eines Tages zurückkommen? Aus Treblinka? Oder Auschwitz? Das Ungeheuerliche dieser Vorstellung war ihr erst Jahre später aufgegangen.
Anne fühlte die Beklemmung in sich wachsen. Sie drehte der Gruppe den Rücken zu und ging weiter, dorthin, wo ihr ein Bauzaun den Weg versperrte. Dahinter lag eine unwirtliche Landschaft. Aus dem grauen Boden ragten ein paar vertrocknete und verstaubte Pflanzen, Goldrute vielleicht, und Schafsgarbe. Auf der Wasserlache in der Mitte des Terrains stand schillernd das Öl. Eine Bachstelze wippte über die Brache, über die sich Insektenschwärme erhoben, wie eine Rauchwolke, wie ein
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