nichts als die wahrheit
Vorhang, der sich nach oben und zur Seite blähte und dann in sich zusammenfiel, um Sekunden später wieder hochzuwehen.
Das mußte der Platz sein, wo man die Bauarbeiten hatte unterbrechen müssen. Sie hatte am Donnerstag im Bauausschuß weder der Debatte noch dem Problem richtig folgen können. Sie erinnerte sich an die angespannte Stille nach der Frage eines jüngeren Abgeordneten: »Wie wurde das Problem denn früher gelöst?« Und an das beklemmende Gefühl, daß alle sie vorwurfsvoll angesehen hätten dabei.
Ein paar Meter weiter links ging die Tür eines der weißen Baucontainer auf, ein Mann mit einem blauen Helm auf dem Kopf guckte aus der Tür, sah zu ihr hinüber, drehte sich dann wieder um und schien in den Raum hinter sich etwas hineinzurufen. Dann fiel die Tür wieder zu.
Für einen Moment beschlich Anne das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Was für ein Unsinn, dachte sie und schüttelte den Kopf. Dann ging sie am Zaun entlang, bis sie eine Öffnung entdeckte, durch die man sich hindurchzwängen konnte. Mit einer Mischung aus Furcht und Trotz betrat sie das Stück Boden, dem man seine Geschichte so wenig ansah – weder die eine, noch die andere.
Beide Geschichten verschränkten sich in ihrer Vorstellung zu einem unentwirrbaren Knoten.
Was immer hier gewesen sein mochte bis 1945 – es war danach in einen Dornröschenschlaf gefallen. Denn hier hatte über fünfzig Jahre lang die Zeit stillgestanden. Hier war der Todesstreifen gewesen, das nachts taghell erleuchtete Gelände um die Mauer herum, das nur Lebensmüde oder Verzweifelte zu betreten versuchten.
Annes überreizte Phantasie ließ sie die Hunde bellen hören, die Wachmannschaften fluchen, die Maschinenpistolen husten. Sie verdrängte den Gedanken an Minen und Selbstschußanlagen. Heute konnte man das Gebiet betreten. Heute war sein einziger Schrecken die Erinnerung.
Die Todeszone hatte die Sedimente der Zeit gespeichert. Und jetzt gab der Boden sie wieder preis – er spie aus, was in ihn für alle Ewigkeit eingehämmert worden war. »Wie wurde das Problem denn früher gelöst?« Sie hatte wieder die unschuldige Frage im Ohr. Und das bedeutungsvolle Schweigen danach.
10
Frankfurt – Berlin
Der Flug von Frankfurt nach Berlin war ausgebucht, obwohl es Sonntag morgen war. Karen war zu spät am Flughafen eingetroffen, hatte sich den Mißmut des Personals eingehandelt und mußte sich mit einem Platz in der Mitte bescheiden, Backe an Backe mit einem Mann von Iwan-Rebroff-Statur rechts und einer dynamischen Kostümträgerin links, die nach kaltem Zigarettenrauch roch. Beide schlossen während des Abhebemanövers die Augen und krallten die Hände um die Armlehnen. Es mußte weit mehr Menschen geben, die Angst vorm Fliegen hatten, als man glaubte.
Karen hingegen liebte den Moment, in dem die Motoren auf Vollast gingen, den Augenblick, in dem die schwere Maschine sich vom Boden löste – was der einzige Grund war, warum sie normalerweise einen Fensterplatz dem Platz am Gang vorzog, obwohl das den Nachteil hatte, daß man länger brauchte, bis man aus der Sardinendose endlich rauskam.
Sie fühlte sich leicht und beschwingt – so euphorisch wie lange nicht mehr. Es mußte daran liegen, daß sie wenigstens für ein paar Tage erlöst war vom Trott und sich auf dem Weg in eine Stadt befand, in der Aufbruch herrschte und nicht das langweilige business as usual. Frankfurt, dachte sie manchmal, war nur in Bewegung, wenn morgens die Pendler hinein- und abends wieder herausströmten. Sie lehnte sich zurück und versuchte einen letzten Blick auf sonnenerleuchtete Äcker und Wälder zu erwischen. Das Leben war endlich wieder aufregend.
Das einzige, was ihr Wohlgefühl störte, war der Gedanke an den Fall Bunge – aber den konnte sie getrost bis morgen verdrängen, am Sonntag war sowieso niemand in der Redaktion des »Journal«.
Kaum war der Airbus in Tegel gelandet, sprang der Schwergewichtige neben ihr hellwach auf und versäumte nicht, ihr sein ausladendes Gepäckstück auf die Hand zu stellen, bevor er sich in die Schlange der Wartenden im Gang drängelte. Die Frau im Kostüm machte ihr Mobiltelefon wieder an und kramte in der Handtasche nach der Zigarettenschachtel. Karen hob ihre vom schweren Reisesack des Dicken zusammengequetschte Tasche aus der Gepäckablage und atmete auf, als sie endlich das Flugzeug verlassen konnte.
Die schlechte Luft im Flughafen war erfüllt von Lautsprecheransagen und Babygeschrei. Die Eltern unter den Berlinern
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